Freitag, 22. Dezember 2017

Arktis und Antarktis in Schweizer Schul- und Kinderzimmern (Teil 2)

Die 1980er-Jahre waren geprägt von einer Atmosphäre schier ausweglos scheinenden Unheils: Wälder sollten bald nur noch aus Baumskeletten bestehen und über kurz oder lang würden mobile Nuklearsprengköpfe Europa in eine Flammenhölle (NATO-Doppelbeschluss) verwandeln. Sollte aber das eine oder andere nicht eintreten, so würde der schnelle Brüter Superphénix im französischen Rhonetal dessen Rohbau 1982 von militanten Kernkraftgegnern mit einem tragbaren Raketenwerfer beschossen wurde den Kontinent in eine plutoniumverseuchte Geisterwelt verwandeln. Die Kernschmelze von Block 4 des Kernkraftswerks Tschernobyl führte 1986 dazu, dass der Reaktor explodierte und Nord- und Mitteleuropa radioaktiv verseucht wurden.

Benötigte man heute eine Illustration, die die damals herrschende Stimmung zum Ausdruck bringt, so lässt sich in den Beständen des Schweizerischen Schulwandbilderwerks (SSW) fündig werden. Das plakatgrosse Schulwandbild Die Arktis, welches 1988 produziert wurde, stellt den von Europa weit entfernten Erdteil als komplett von Menschenhand verschandelt dar. Der raffinierte Aufbau des Bildes lenkt den Blick des Betrachters auf die einzigen Wesen, die darauf zu erkennen sind: ein Hundegespann mit einem Fahrer, die wirken, als ob sie sich auf desparater Flucht befinden.

"Die Arktis". Das 219. Bild des Schweizerischen Schulwandbilderwerks (SSW), Originalgrösse 59 x 83 cm

























Erstmals auf sich aufmerksam machte der Gestalter dieses Bildes, Jörg Müller (*1942), mit der 1973 erschienen Bildmappe Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder oder Die Veränderung einer Landschaft; sie brachte ihm den Deutschen Jugendbuchpreis ein.

In der Einleitung zum Lehrerkommentar, der zu jedem Schulwandbild produziert wurde, schrieb Müller beschwörend: Da ist der grossartige Traum von der grossen unberührten Wildnis. Da ist aber auch der Alptraum von diesen kaum bewohnten Regionen, die von uns rücksichtslos ausgebeutet werden und dabei doch ein so empfindliches ökologisches Gleichgewicht haben. Wäre nicht wenigstens dort noch sehr viel zu retten? Können wir hoffen? Was können wir tun? – Dort und bei uns!

Sieben Jahre nach der Publikation dieses Bilds existierte das 1935 gegründete Schulwandbilderwerk allerdings nicht mehr. Begründet wurde dies mit dem Einzug der audiovisuellen Technik in den Unterricht.

Künstler und Illustratoren hatten ab den 1970er-Jahren allerdings auch ein neues Selbstverständnis gewonnen Sie wollten sich nicht mehr von Vertretern der Kommission für interkantonale Schulfragen des Schweizerischen Lehrervereins (abgekürzt Kofisch) in die Ausführung ihrer Werke dreinreden lassen. Welcher Auffassung man davor beim Schweizerischen Schulwandbilderwerk von der Aufgabe des Künstlers hatte, lässt sich in einem anonym 1951 erschienen Aufsatz in der Schweizerischen Lehrerzeitung nachlesen: Dies aber ist der Kerngedanke des SSW: Der Pädagoge gibt den Auftrag und kontrolliert die Ausführung.

Von Staatskunst für Schweizer Schulzimmer kann in diesem Zusammenhang deshalb gesprochen werden, weil die Künstler der insgesammt 252 Schulwandbilder, die zwischen 1935 bis 1995 erschienen sind, vom Eidgenössischen Departement des Innern honoriert wurden. Diese Mittel wurden damals aus einem vom Bundesrat geschaffenen Krisenfonds bereitgestellt, mit dem die auch unter Künstlern und Illustratoren grassierende Erwerbslosigkeit bekämpft werden sollte; auch sollte etwas gegen den Import von Schulmaterial aus dem Deutschen Reich unternommen werden. Die Funktionäre der Kofisch begleiteten das Unternehmen mit ihrem pädagogischem Rat und die Ernst Ingold AG in Herzogenbuchsee, die Schulmaterial verkaufte, vertrieb die Bilder mittels Abonnements an die Schulgemeinden; im besten Jahr setzte die Firma 12'000 Stück davon ab.

Ein wesentlich heitereres Bild des SSW gelangte 15 Jahre früher in die Schulstuben; geschaffen wurde es vom Westschweizer Maler und Bühnenbildner Adrien Holy (1898-1978).

"Fram". 158. Bild des Schweizerischen Schulwandbilderwerks (SSW), Originalgrösse 59 x 83 cm

























Beim Anblick der vermummten Gestalten mag sich beim einen oder anderen Schüler wohl die Assoziation an die Filmsequenzen mit den ulkigen Hopsern Neil Armstrongs und Harrison Jack Schmitts eingestellt haben, die die beiden ersten Astronauten der Apollo-Missionen auf dem Mond vollführten, und die er vielleicht am Fernseher mitverfolgt hatte. Im Lehrer- Kommentars zu diesem Bild steht denn auch: Fram, für viele ein nichtssagendes Wort, für andere jedoch der Inbegriff eines Expeditionsschiffes, das wie heute die Raumschiffe, einzigartigem menschlichem Unternehmungsgeist entsprungen ist. - Die Expedition der Fram sozusagen als Low-Tec-Version davon.

Der Autor des 20seitigen Kommentars dieses Schulwandbilds, ein Dr. H. Vögeli, der vermutlich als Gymnasiallehrer tätig war, hielt im Vorwort fest, dass er sich jedes Jahr in den Sommermonaten in Island, Grönland oder Spitzbergen aufhalte. An die Adressaten, die Lehrerschaft, gerichtet, sollte dies wohl seine Kompetenz auf diesem Gebiet unterstreichen; Dritten wäre dabei wohl auch das träfe Wort vom Ferientechniker eingefallen.

Für den Unterricht benötigten Lehrer (heute "Lehrpersonen" genannt) sogenanntes didaktisches Hilfs- bzw. Anschauungsmaterial: Ab etwa 1910 begannen spezialisierte Verlage Diaserien für den Einsatz im Unterricht zu produzieren; 1913 existierten europaweit etwa 30 Firmen, die Lichtbilder produzierten. Diapositive dürften etwa bis zur Jahrtausendwende im Unterricht verwendet worden sein.

Im Essay Epiphanie für jedermann schreibt die Publizistin Hannelore Schlaffer: Die ästhetische Theorie schätzt seit je das Auge, das nun allein die Regentschaft übernimmt, als das oberste, intellektuelle Sinnesorgan. [...] Faszination ist eine Glückerfahrung, in der die alltägliche Wirklichkeit über dem Erlebnis einer überdimensionalen Erscheinung in nichts zerrinnt: Der Geist leuchtet in der Finsternis, in die die Wirklichkeit versinkt.

Konnten für ein Schulwandbild noch ein oder zwei Schüler vom Lehrer abdelegiert werden, um es nach der entsprechenden Nummer in der Asservatenkammer der Lehrerschaft herauszusuchen, um es dann im Schulzimmer an der eigens dafür angebrachten Einrichtung an Schnüren zur Decke hochzuziehen, so erforderten Lichtbilder wesentlich aufwändigere Vorbereitungen. Bis das Schulzimmer verdunkelt war und ein Bild an der Wand erstrahlte, musste zuerst ein Stativ aufgebaut und ein schwerer Bildwerfer, der Projektor, darauf gehievt und an der Steckdose angeschlossen, ein Ständer an der Wand platziert und eine Leinwand daran aufgehängt und entrollt werden.

Während die ersten Schüler im Halbdunkel bereits einzudämmern begannen, schob der Lehrer nun Bild um Bild in den Lichtstrahl, begleitet von seinen mehr oder weniger lebhaften Kommentaren. Schlagartig wach dürften allerdings die Schüler geworden sein, wenn sie ihr eigenes Spiegelbild zu sehen bekamen: Kinder in einer Schulstube im hohen Norden. Beim einen oder anderen Schüler führte dies wohl auch zur jähen Erkenntnis, dass selbst dort Kinder ihrem Schicksal nicht entgingen.

Volksschulklasse in Longyearbyen (Spitzbergergen). Kleinbild-Diapositiv aus einer 1972 erschienenen Serie.























Kleinbild-Diapositiv aus einer 1966 erschienen Serie Wirtschaft und Siedlung in Grönland.























Eine bemerkenswerte Publikation erschien erstmals im Jahr 1929; bis in die 1950er-Jahre wurden weitere Auflagen davon produziert. Sein Verfasser bzw. der Illustrator, der sächsische Schulmeister Arno Gürtler hielt in der Vorbemerkung des dritten Hefts von Zeichnen im erdkundlichen Unterricht. Fremde Erdteile unter Punkt 8 apodiktisch fest:

Es kommen Fälle vor, wo dem Schüler die Übertragung der wörtlichen Darstellung des Lehrers in die eigene Vorstellung grosse Schwierigkeiten bereitet. Da ist die Zeichenskizze zu Hilfe zu nehmen. Von dieser aber auszugehen, ist falsch. Immer erst das Leben und die Sache, dann das Zeichen und das Zeichnen.

Zu Teil 1 von Arktis und Antarktis in Schweizer Schul- und Kinderzimmern


Kaiserpinguine auf der Wanderung, Diapositiv, ca. 1920.
Literatur
Brücker, Chr.: Der Lichtbilderapparat in der Volks- und Mittelschule. Strassburg 1913.

Gamper, Barbara: Arktis. Zürich: Schweizerischer Lehrerverein 1988. (Kommentare zum Schweizerischen Schulwandbilderwerk, 53 Bildfolge 1988, Bild 219).

Gürtler, Arno: Zeichnen im erdkundlichen Unterricht. Drittes Heft: Fremde Erdteile. Leipzig 1937.

Bundesamt für Kultur (Hg.): Kunst zwischen Stuhl und Bank. Das Schweizerische Schulwandbilder Werk 1935-1995. Baden 1996.

Schlaffer, Hannelore: Epiphanie für jedermann. Das Lichtvon hinten ist Licht von innen - warum uns Computerbildschirme süchtig machen, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.2.2014, Nr. 38, S. 63.

Vögeli, H.: Die Fram. Zürich: Schweizerischer Lehrerverein 1973. (Kommentare zum Schweizerischen Schulwandbilderwerk, 38. Bildfolge 1973, Bild 158).

Freitag, 1. Dezember 2017

Erstes Netzwerk-Treffen Arktis-Sammlungen Schweiz (10./11. November 2017 in St. Gallen)

Am 10./11. November 2017 fand das Treffen des neu initiierten «Netzwerkes Arktis Sammlungen Schweiz NASS» im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen HVM statt. An der Veranstaltung nahmen rund 20 Personen teil, die sich beruflich oder privat mit Objekten bzw. Dokumentationen aus dem arktischen Raum beschäftigen.

Im ersten Teil stellte das HVM seine Arktissammlung und deren Provenienz in zwei Vorträgen von Achim Schäfer, Sammlungsleiter HVM (Otto Nordenskjöld) bzw. Peter Müller, Provenienzforschung HVM (Trautmann Grob) vor. Anschliessend führte Jolanda Schärli durch die seit 2015 neu eröffnete Nordamerika-Ausstellung. Den Grossteil der Inuit-Objekte hat das HVM 1909 von Otto Nordenskjöld angekauft, einem schwedischen Geologen und Polarforscher.

Am Nachmittag referierte der Restaurator Ulli Freyer in einem äusserst spannenden und erkenntnisreichen Vortrag über die Materialien Horn, Schildpatt und Walbarte. Er liess die Teilnehmenden die verschiedenen Materialien auch haptisch erleben.

Die Kuratorin Martha Cerny stellte die Cerny Inuit Collection vor, eine der weltweit umfassendsten Sammlungen zeitgenössischer Kunst aus dem hohen Norden von beiden Seiten der Beringstrasse. Ein Schwerpunkt des Vortrags war die Verarbeitung des Klimawandels in der arktischen Kunst.

Das Nordamerika Native Museum NONAM in Zürich hat in den letzten Jahren schon mehrere Ausstellungen zum Thema Arktis realisiert. Florian Gredig stellte die Sammlungen vor, darunter auch die Arktis-Datenbank und -Bibliothek von Hubert Wenger und Beatrice Wenger-Peek (Genf).

Sabine Bolliger, Leiterin der Archäologischen Sammlung des Bernischen Historischen Museums BHM, gab Einblick in die Sammlung und Dokumentationen zu den Ausgrabungen des Archäologen Hans Georg Bandi, der in den 1970er Jahren mehrmals in Alaska Ausgrabungen leitete. Sie ist daran, die Sammlung Bandi umfassend zu dokumentieren.

Am Samstagvormittag trafen sich 12 Teilnehmende zum Brunch im Hotel Dom, um im kleinen Kreis zu diskutieren und sich zu vernetzen. Zum Abschluss gab das HVM mit einer Führung des Sammlungsleiters Achim Schäfer einen Einblick hinter die Kulissen. Ausgewählte Objekte, die sonst im Depot schlummern, konnten aus der Nähe studiert werden.

Das Treffen erwies sich als eine sehr gelungene Veranstaltung: Es wurden neue Kontakte geknüpft und Erkenntnisse weitergegeben. Sämtliche Teilnehmenden wünschten eine Fortsetzung der Veranstaltung. Die Kerngruppe (HVM, BHM, Cerny Inuit Collection, NONAM) trifft sich Anfang 2018 in Bern, um eine Veranstaltung im ähnlichen Rahmen für Ende 2018 zu besprechen. (Quelle: Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen)

Hauptfassade Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen (Quelle: Wikipedia)

Montag, 20. November 2017

Hans-Beat Wieland (1867-1945), Zeichner und Maler

Sandra Walser, freischaffende Polarführerin, Referentin, Fotografin und Publizistin aus Zürich, arbeitet an einer Publikation mit dem Arbeitstitel "Als blickte ich in ein Feenland" über den Zeichner und Maler Hans Beat Wieland (1867-1945), die im Herbst 2018 erscheinen soll. Wieland hielt sich im Auftrag der Leipziger Illustrierten in den Sommern 1896 und 1897 auf Spitzbergen auf.

Holzstich nach einer Zeichnung oder Fotografie von Hans Beat Wieland aus der Leipziger Illustrierten

Freitag, 25. August 2017

Demnächst: Schweizer Polarforschung (Sonderausstellung "Swiss Camp", 1. September bis 19. November 2017, focusTerra, ETH Zürich)

2017 wurde die Schweiz als einer der wenigen nicht angrenzenden Staaten als Beobachter in das Arctic Council aufgenommen. Das kommt nicht von ungefähr, denn Schweizer WissenschaftlerInnen sind sehr aktiv in der Polarforschung. Das Verständnis der Prozesse von Schnee und Eis − wie an den Polen – prägen sowohl Landschaft als auch Leben hierzulande. Aus der langen Tradition von hochalpiner Forschung hat sich seit dem 19. Jahrhundert eine breite Palette von Fachgebieten entwickelt. Die resultierenden Kenntnisse auf den Gebieten der Glaziologie, der Geo-, Bio-, Atmosphären- und Bodenwissenschaften bringen grosse Gewinne für die Erforschung der Polarregionen − und umgekehrt. (Website)

Öffnungszeiten: Mo-Fr: 9:00–17:00; So: 10:00–16:00; Sa: geschlossen Adresse und Lageplan

Öffentliche Vortragsreihe Schweizer Polarforschung sowie Filme zur Ausstellung

Schweizer Forschungsstation Swiss Camp in Grönland, Konrad Steffen, WSL























Blog ETH Bibliothek/ETHeritage und zur Biographie Alfred de Quervains

Montag, 21. August 2017

Swiss South Pole Expedition 2018/19 – Heading South

Das grosse Abenteuer wartet am anderen Ende der Welt: Die Swiss South Pole Expedition peilt den Südpol an. Die Faszination über den Pioniergeist der ersten Polarforscher vor rund 100 Jahren, die Lust auf Abenteuer in deren Spuren und die Freude am gemeinsamen Erleben treiben uns an. Die Herausforderung: Mit eigener Kraft durch die Antarktis ziehen, um den südlichsten Punkt der Erde zu erreichen. Mit unserer Expedition wollen wir anderen Mut machen, ihre Ziele in Angriff zu nehmen, ihre Träume wahr werden zu lassen und sich auf den Weg zu machen.

Das Team plant, den Südpol in 60 Tagen auf Ski zu erreichen. Gestartet wird Mitte November 2018 bei Berkner Island – von dort sind es rund 1300 km bis zum Ziel. Der Weg führt über bizarre Flächen aus Schnee und Eis bis auf das Plateau der Antarktis auf knapp 3000m ü. M. Mal unter blauem Himmel, mal im irritierenden Whiteout, stets mit viel Gegenwind und Temperaturen weit im Minusbereich. Gemeinsam stellt sich das Team den unwirtlichen Bedingungen mit dem Motto: Heading South!

Die für diese grosse Expedition nötigen Vorbereitungen laufen auf Hochtouren: Vom Zahnarzt-Coaching über Müsli-Mix-Experimente, von Ausrüstungs-Tests bis zum Reifen-Zieh-Training gibt es unzählige kleine und grosse Aufgaben zu erledigen. Seit mehreren Monaten sind die unterschiedlichsten Menschen an der Arbeit: Gestalter, Texterinnen, Physiotherapeuten, Beraterinnen, Visionäre und Kameraleute sind mit an Bord. (Website)

Link zur Website, zum Team und zum letzten Eintrag im Blog (22. März 2017)



Mittwoch, 5. Juli 2017

High Altitudes meet High Latitudes: Globalizing Polar Issues, September 11-12, 2017 Switzerland, Crans-Montana

Climate change has global causes and effects. This conference addresses growing challenges and their consequences for fragile environments both in the high latitudes and high altitudes, focusing on the polar regions and the Alps. It brings together researches from natural and social sciences to facilitate dialogue among experts with the aim of comparing observations from these regions, tracing causal chains, and connecting the global and local scales of analysis. Problem-based issues such as biodiversity, urbanization, permafrost, health and risk management, structure the conference workshops.

The conference’s emphasis on links between local and global processes, as well as its interdisciplinary approach, also enable the promotion of academic and public awareness on the climate change mechanisms impacting familiar and distant locations.

Program



Freitag, 12. Mai 2017

Die Schweiz erhält Beobachterstatus im Arktischen Rat

Bern, 12.05.2017 - An seiner Sitzung in Fairbanks, Alaska, vom 11. Mai 2017, hat der Arktische Rat der Schweiz den Beobachterstatus gewährt. Dies erlaubt es der Schweiz, ihr Know-how, über das sie insbesondere im Bereich der interdisziplinären Forschung zum Klimawandel verfügt, in den Arbeitsgruppen des Rats einzubringen. Der Arktische Rat ist eine zwischenstaatliche Organisation, die sich für die Förderung der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der nachhaltigen Entwicklung in der Arktis einsetzt.

Medienmitteilung

Freitag, 3. Februar 2017

Alfred de Quervain. Erforscher physikalischer Extreme und Überquerer des grönländischen Inlandeises, von Stefan Kern

Prolog
Am Morgen des 21. Juli 1912 erklettern vier Männer unter der Leitung von Alfred de Quervain einen Moränenwall. Dieser befindet sich an der Ostküste Grönlands auf 800 Metern über Meereshöhe. Die vier haben eine exzellente Leistung vollbracht: Sie haben den Eisschild, von dem der „sechste Kontinent“ überzogen ist, bis auf eine Höhe von 2’500 Metern erstiegen. Und ihn auf einer Strecke von 650 Kilometern überquert. In vier Wochen, mit zwei von dreissig Hunden gezogenen Schlitten. Nach vielen vergeblichen Versuchen – die erste Begehung des Inlandeises geht auf das Jahr 1729 zurück – war es Fridtjof Nansen (1861-1930) im Jahr 1888 zum ersten Mal gelungen, das Inlandeis zu überqueren. Auf einer kürzeren Route, ungefähr 400 Kilometer weiter im Süden gelegen. Doch Triumphgefühle, auch nur so etwas wie Genugtuung, wollen sich bei de Quervain, den beiden deutschen Expeditionsmitgliedern, dem Architekten Roderich Fick (1886-1955) [1] und Ingenieur Karl Gaule [2] sowie dem St. Moritzer Arzt Hans Hössli (1883-1918) [3] nicht einstellen. Denn als sie ihre Karte auseinanderfalten und nach Übereinstimmungen im Gelände suchen, müssen sie feststellen, dass sie kaum welche erkennen können.

„Verlassen Sie sich ja nicht auf die Karte! Bauen Sie nicht auf die Karte“ dringen de Quervain die Worte des dänischen Marineoffiziers und Entdeckers Gustav Frederik Holm (1849-1940) jetzt schmerzhaft wieder ins Bewusstsein. Den betagten Kapitän hatte er vor der Einschiffung nach Grönland in Kopenhagen besucht und ihn um Ratschläge für diesen Abschnitt der Reise gebeten. Seine Warnung behielt de Quervain jedoch für sich. Holm wollte dreissig Jahre zuvor auf der „Frauenbootexpedition“ [4] auch diesen Abschnitt der „kalten Küste“ Ostgrönlands kartographieren. Doch ausgerechnet hier, beim weit ins Land reichenden Sermilik-Fjord, den die vier Männer jetzt überblicken können, war es ihm nicht gelungen, mit dem Schiff hineinzugelangen. Treibeis hatte den Eingang zum Fjord versperrt. Deshalb konnte Holm auf der Karte nur einzeichnen, was aus der Ferne zu erkennen war. Zusätzlich stützte er sich noch auf die Angaben der Inuit. [5]

In dieser Gegend, am Fuss einer Landzunge, gegenüber einer kleinen Insel, sollte sich ihr Depot befinden. Wenige Wochen zuvor war es für sie angelegt und mit Lebensmitteln und Ausrüstung versehen worden. Auch mit vier Kajaks für ihre Evakuierung nach der etwa 50 Kilometer entfernten Siedlung Ammassalik. So war es mit Bestyrer Petersen, dem dänischen Verwalter der Siedlung, ein Jahr zuvor in Kopenhagen vereinbart worden. Einen Einbruch in einen Gletschersee und tagelange Stürme hatten sie überlebt. Jetzt mussten unbedingt die Feldbücher in Sicherheit gebracht werden: Die Höhenmessungen und die Positionsbestimmungen für das zweite und bisher längste Höhenprofil des Inlandeises. Die meteorologischen Daten. Und ein Panorama von einer im Nordosten gelegenen, neu entdeckten Bergkette, die hundert Kilometer von der Küste entfernt liegt. Schweizerland hatten sie sie getauft und dem höchsten Berg in der Kette den Namen Mont Forel verliehen - zu Ehren ihres Mentors, des Limnologen und Glaziologen François-Alphonse Forel. [6]

De Quervain hatte bei den Vorbereitungen zu dieser Expedition auch diese Überlegung angestellt: Jedes Mitglied barg ein Risiko, dass es zum schwächsten Glied in der Kette werden könnte. Deshalb sollte die Zahl der Teilnehmer möglichst klein gehalten werden. Die für ein solches Unternehmen kleinstmögliche Zahl waren vier Leute. Hätten sie sich zu trennen, müsste keiner allein bleiben. Jetzt war dieser Fall eingetreten. Versehen mit Proviant für drei Tage, und Notproviant für zwei weitere, machen er und Gaule sich auf, um an der schroffen Küste nach dem Depot zu suchen. In spätestens sechs Tagen wollen sie beim Lager zurücksein. Hössli und Fick erhalten den Auftrag, in der Zwischenzeit aus den beiden Schlitten und dem Zeltstoff eine Boots-Konstruktion zu entwerfen, um im schlimmsten Fall damit über den zehn Kilometer breiten Sermilik-Fjord zu gelangen. Zu Fuss hätten sie sich dann noch durch das unwegsame Gelände nach dem rund fünfzig Kilometer entfernten Ammassalik durchschlagen müssen.

Unterwegs entfachen Gaule und de Quervain immer wieder Rauchfeuer aus dem Kraut der schwarzen Krähenbeere. Falls sich Inuit im Fjord aufhielten, sollten sie damit auf sie aufmerksam gemacht werden. Doch diesen Sommer hielt sich keine einzige Familie im Fjord auf. Nach drei Tagen stossen sie auf das Depot; in regelmässigen Abständen entlang der Küste erbaute Steinmänner haben ihnen den Weg dazu gewiesen. Erschöpft von ihren waghalsigen Klettereien entlang der Küste und den Märschen über die Firnfelder der Landzungen, verbringen sie eine Nacht im Zelt, das sich im Depot befand. Sie werden von Mücken gequält, die es hier an der Küste in gigantischen Schwärmen gibt. Am nächsten Tag lassen sie eine Nachricht und eine korrigierte Kartenskizze zurück und fahren mit den Kajaks los. Jeder mit einem weiteren im Schlepptau. Auf ihrer Passage zur „Hoffnungsbucht“ müssen sie Eisberge passieren. Diese können jeden Augenblick einstürzen oder die Flutwellen die Kajaks zum Kentern bringen. Im engen Fjord zwischen dem Gaule- und dem Ficks-Bjerg geraten sie in den Ebbestrom. Nach fünf Tagen sind sie wieder beim Zeltplatz Nr. 29 auf 835 Metern Höhe zurück. Mit ihren beiden Kameraden steigen sie zur Küste ab und erreichen nach neunstündiger Kajakfahrt erneut das Depot. Zwei Tage später wird ihr Lager von drei vorbeiziehenden Kajakmännern entdeckt. Ihr Sommerplatz liegt in 40 Kilometern Entfernung in Richtung Küste. Ob es sich um einen Zufall handelt oder ob systematisch nach ihnen gesucht wird, finden sie wegen der sprachlichen Barrieren nicht heraus.

Gaule ist geschwächt. Eine an der Westküste zugezogene Infektion an der Stirn macht sich bei ihm erneut bemerkbar. Mit zwei der drei Kajakmänner fährt de Quervain mit allen Aufzeichnungen allein los. Tags darauf, am 1. August, trifft er in Ammassalik ein. Hier kann er Bestyrer Petersen zwei Briefe überreichen, die er für ihn aus seiner Heimat mitgenommen hat. Es sind die ersten Nachrichten für ihn seit einem Jahr. Die anderen treffen in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1912 in einem Umiak ein.

1. Umzug in einem Ummiak.






















Alfred de Quervains Werdegang und seine beruflichen Stationen 
Alfred Auguste de Quervain wurde am 15. Juni 1879 als Sohn des Pfarrers Frédéric (Johann Friedrich) und der Louise-Elise Anne Girard in Uebeschi bei Thun geboren. Die elfköpfige Familie lebte in Muri. Ein Teil seiner Vorfahren waren bretonisch-hugenottischen Ursprungs. Eine breite humanistische Bildung konnte er sich am Freien Gymnasium Bern, der Lerber-Schule aneignen. Nach glänzend bestandener Maturität entschloss er sich 1898 zum Studium der Naturwissenschaften. Seine Schwerpunkte legte er auf Geophysik und Meteorologie. Noch ins selbe Jahr fiel ein Volontariat im privaten Observatorium von Léon-Philippe Teisserenc de Bort (1855- 1913) [7] in Trappes bei Paris. Im Alter von 22 Jahren reiste er im Auftrag de Borts allein nach Russland, um die winterlichen Temperaturen der Atmosphäre mit Hilfe von Ballonaufstiegen zu erforschen. Auf der Rückreise wurde ihm sein Koffer gestohlen, worin sich auch alle seine Messresultate befanden. Tage der Hoffnungslosigkeit folgten. Doch dank glücklicher Umstände gelangten die für den Dieb wertlosen Dokumente eine Woche später wieder in seinen Besitz zurück.

2. Theodolit, 1905.
Organisatorische Fähigkeiten konnte er sich als Assistent des Geophysikers und Meteorologen Hugo Hergesell (1859-1938) im damals deutschen Strassburg aneignen. Hergesell war Gründungsmitglied des Oberrheinischen Vereins für Luftschifffahrt und Vorsitzender der Internationalen Kommission für wissenschaftliche Luftschifffahrt. Als deren Sekretär war de Quervain verantwortlich für die Koordination von internationalen Pilotballonaufstiegen. In Strassburg entwickelte er einen Theodolit zur Messung der Flugbahn von Wetter-Ballons.

In Strassburg begegnete er auch August Stolberg (1864-1945). [8] Dieser war als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Meteorologischen Landesdienstes Elsass-Lothringen tätig. Wenige Jahre später sollte dann Stolberg den jungen Schweizer Wissenschafter zweimal nach Grönland begleiten. In Strassburg erwarb de Quervain auch das Brevet für das Pilotieren von Freiballons. Noch teilweise in seine Studienzeit fiel ein Volontariat an der Sternwarte in Neuchâtel. Dort konnte er sich mit den Grundlagen der Zeit- und Ortsbestimmung vertraut machen. Dieses Fach lehrte er später auch in einer Vorlesung an der ETH Zürich. Mit einer Dissertation beim Geografen Eduard Brückner (1862-1927) über thermische Effekte im Alpenraum schloss er seine Studienzeit in Bern 1902 ab. In Strassburg habilitierte er sich 1905 als Privatdozent für Meteorologie. Ein Jahr später wurde er als stellvertretender Direktor-Adjunkt der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt nach Zürich gewählt. Berufungen als Privatdozent für Meteorologie und Geographie folgten 1915 an der Universität Zürich und im Jahr 1922 an der ETH.

Die Erforschung der kontinentalen atmosphärischen Zirkulation, die er in Russland begonnen hatte, wollte de Quervain weiterführen. Einen weiteren Impuls gaben ihm vermutlich auch die Berichte vom erstmaligen Versuch, im Juli 1907 den Nordpol für die Dauer einer Woche mit einem Kranz von aerologischen Stationen zu umgeben. Elf Expeditionen waren mit 250 Ballon- und Drachenaufstiegen daran beteiligt. 1911, ein Jahr vor seiner zweiten Reise nach Grönland, verheiratete er sich mit der Lehrerin Elisabeth Nil aus Loveresse im Berner Jura. Der 1915 geborene Sohn Marcel trat später in die Fussstapfen seines Vaters: Als Nivologe war er Ende der 1950er-Jahre im mehrjährigen internationalen Forschungsprogramm, der Expédition Glaciologique Internationale au Groenland (E.G.I.G.) ebenfalls auf dem Inlandeis Grönlands tätig.

3. Universal-Seismograph in Degenried.
Als Leiter des Schweizerischen Erdbebendienstes begann de Quervain zusammen mit Auguste Piccard (1884-1962) [9] neuartige Seismographen zu konstruieren. Ein hochempfindliches Instrument mit ungefähr 2'000-facher Vergrösserung erforderte eine Pendelmasse von 20 bis 25 Tonnen. Sie bestand aus Hunderten von Stahlklötzen zur Herstellung von Granaten. Die Armee hatte sie ihnen unter der Auflage überlassen, sie im Kriegsfall binnen 48 Stunden zurückzuerstatten. „Durch Einschaltung von Eisendrahtgittern und Zwischengiessen von stark bindendem Zement ist für die absolute Einheit der Masse mehr als ausreichend gesorgt, wenn auch weniger für die vom Generalstab geforderte leichte Wegnehmbarkeit dieser Granatenstahlklötze zur eventuellen Verwendung im Kriegsfall.“ [10], so de Quervain mit einem feinen Zwischenton im Anhang der Annalen der schweizerischen meteorologischen Zentral-Anstalt für das Jahr 1925. Über die Konstruktion und zu den Kompromissen, die dabei eingegangen werden mussten:

„Ein wesentlicher Punkt war die Forderung, alle drei Komponenten zu registrieren, alle drei Komponenten, also auch die V e r t i k a l komponente [Hervorhebung SK], mit einer gleichmässigen Vergrösserung. Wir wurden durch diese Forderung ganz von selbst zu dem Unternehmen geführt, einen sog. ‚Universal’apparat zu konstruieren. Die räumlichen und auch die finanziellen Konsequenzen hätten es ja nie zugelassen, dass man drei Apparate von solchen Dimensionen nebeneinander aufgestellt hätte, wie es theoretisch am korrektesten und rein mechanisch am leichtesten gewesen wäre.“ [11]

Als wenig später in Chur und in Neuchâtel praktisch gleiche Seismographen gebaut wurden, berichtete er mit Genugtuung: „Jetzt stehen wir unmittelbar vor der Situation, dass dank diesem Apparatendreieck eine sichere seismische Triangulation für das Gebiet der Schweiz besteht. Es wird im Gebiete der Schweiz kein Erdbeben mehr, weder der objektiven Feststellung, noch der sichern Lokalisierung entgehen!“ [12] Den Entschluss für eine solche Konstruktion hatten Piccard und de Quervain auf einer Freiballonfahrt zur Messung von Ballongastemperaturen im April 1913 gefasst. Mit dem leuchtgasgefüllten Freiballon Zürich waren sie beim Gaswerk Schlieren aufgestiegen und die Nacht hindurch nach Buchs ins Rheintal gefahren. Vor dem Start war ihnen Albert Einstein beim Montieren der Messinstrumente im Ballon zur Hand gegangen. 

Die Erteilung der Baukonzession für die Jungfrau-Bahn hatte der Bundesrat mit einer finanziellen Beteiligung des Bahnbetreibers an den Betrieb einer multidisziplinären Forschungsstation verknüpft. Nach sechzehnjähriger Bauzeit fuhr am Nationalfeiertag 1912 der erste Zug auf das Jungfraujoch. Im Auftrag der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft trieb de Quervain nach dem ersten Weltkrieg die Realisierung des visionären Projekts voran.

Er wandte sich auch der Untersuchung der einheimischen Gletscher zu. Mit dem von ihm entwickelten Kyrokinemeter [Kyros, „der grosse Fluss], mass er die Fliessgeschwindigkeiten der beiden vorstossenden Gletscher von Grindelwald. „Es [das Kyrokinemeter] lässt die Bewegung zirka 10 mal vergrössert an einer Kreisteilung bis auf 0,01 mm ablesen. Die Verbindung mit dem Gletscher wird durch einen von einem 250 g Gewicht gespannten 3-5 m langen und 0,2 mm dicken Stahldraht bewirkt; ein Messingbüchschen, an das er befestigt ist, wird mit einer Kältemischung von Eis und Salz gefüllt und friert im Gletscher fest. Die letzte Ausführung (hergestellt bei H. Mettler in Zürich) wird vorgezeigt; sie ist dazu eingerichtet, bequem auseinandergenommen und verpackt, und an jedem beliebigen Fixpunkt (Pickel, Steinplatte) festgeklemmt zu werden.“ [13]

4. Provisorische meteorologische Station, 1925.
Im gleichen Sitzungsbericht vom 27. August 1921 ist auch von seinem Versuch zu lesen, die Veränderungen des oberen Grindelwald-Gletschers täglich mit einer Filmkamera während eines Jahres in laufenden Bildern festzuhalten.

De Quervain gehörte 1916 zu den Initianten zur Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Geophysik, Meteorologie und Astronomie der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft und war Mitglied der Schweizerischen Gletscherkommission geworden. Von 1922 bis 1924 präsidierte er die Naturforschende Gesellschaft Zürich und von 1922 bis 1927 war er auch erster Präsident der Kommission für die Forschungsstation Jungfraujoch. Die Eröffnung der auf über 3'500 Metern gelegenen Station im Jahr 1931 erlebte er jedoch nicht mehr. Nach einem Arbeitsaufenthalt auf dem Jungfraujoch, wo er eine provisorisch aus Brettern erbaute Station errichten liess, erlitt er 1924 einen Schlaganfall. Ein Rückfall am 13. Januar 1927 setzte seinem Leben im Alter von 47 Jahren ein frühes Ende.

Die Vorbereitungen zur zweiten Überquerung des Inlandeises 
Bedingt durch die klimatischen Verhältnisse, weist die Westküste Grönlands bedeutend mehr Siedlungen auf als die Ostseite. Vom einzigen Ort an der Europa näher liegenden Ostküste aus zu starten, hätte den Vorteil gehabt, dass man an der Westküste doch noch „irgendwo“ auf Menschen stossen konnte, falls man den Kurs verfehlt hätte. Nansen entschied sich seinerzeit aus diesem Grund für diese Route. Die Kosten gaben für de Quervain den Ausschlag für eine Traversierung von West’ nach Ost’: Erst im Spätsommer konnten Schiffe überhaupt den Treibeisgürtel an der Ostküste durchdringen, was für eine Überquerung jedoch zu spät war. Die Mannschaft hätte überwintern müssen, was zusätzliche Mittel erfordert hätte. Und der Bundesrat hätte sich wohl kaum darauf eingelassen, einen ihrer Beamten für fast ein Jahr zu beurlauben. Zudem waren die Erfolgsaussichten des Unternehmens höchst unterschiedlich beurteilt worden. Bei seiner Entscheidung für diese Route war de Quervain sich bewusst, dass „… man entweder den einen bewohnten Punkt der Ostküste treffen oder umkommen [musste].“ [14]

5. Routen Nansens und de Quervains.
Den Plan für eine weitere Überquerung hatte de Quervain drei Jahre zuvor auf einer ersten Grönlandreise entworfen. Er kannte die Anforderungen also genau, die sich an ein solches Unterfangen stellten. Zu jener Zeit war Grönland, wie Tibet, ein verbotenes Land: Es durfte nur mit Einwilligung der dänischen Behörden bereist werden.

Mutmasslich die ersten Schweizer, die eine Bewilligung dafür erhielten, waren die Botaniker Martin Rikli (1868-1951) und Hans Bachmann (1866-1940). Sie bereisten die Westküste im Sommer 1908. Ein Jahr später waren auf der Deutsch-schweizerischen Grönlandexpedition Alfred de Quervain, der Glarner Geograph Emil Baebler (1875-1954) [15], der Privatgelehrte August Stolberg und als temporärer Gast der Geologe Arnold Heim (1882-1965) dort unterwegs. Neben einer Reihe von Erstbesteigungen untersuchten sie an der Westküste den Karajak-Gletscher. Dieser liegt nördlich der Halbinsel Nuussuaq, ungefähr 100 Kilometer über dem 70. Breitengrad. Den schnell fliessenden Gletscher vermassen sie mit Hilfe von stereo-photogrammetrischen Aufnahmen. Vom deutschen Polarforscher Erich von Drygalski (1865-1949) war er bereits in den frühen 1890er-Jahren untersucht worden.

Die für sein späteres Vorhaben entscheidenden Erfahrungen sammelte de Quervain bei einem ersten Versuch zu einer Überquerung des Inlandeises. 120 Kilogramm konzentrierter Nahrung nahm er dafür mit. Berechnet war sie auf sechs Wochen. Auch ein Zelt, Schlafsäcke, Kocher, Schneeschuhe, Steigeisen, Pickel und Seile, einen chirurgischen Besteckkasten und eine Apotheke. Sein Vorhaben deklarierte er zwar als einen „Vorstoss“. Doch erhoffte er sich, dass eine Überquerung gelingen könnte. Vorsorglich hatte er im Lager an der Küste ein Gesuch um Urlaubsverlängerung an den Bundesrat verfasst und es per „Kajakpost“ in die nächstgelegene Siedlung schicken lassen: Wären sie bis zum Stichdatum, dem 3. August 1909, nicht zurückgekehrt, sollte der Brief mit einem nach Süden laufenden Schiff abgehen. Einen Einsatz von Schlittenhunden erwog er nicht, weil in der bereits fortgeschrittenen Jahreszeit die Spaltenzonen der Gletscher zu sehr zerklüftet waren. Die zwei Schlitten sollten von ihnen selbst durch die Spaltenzonen bugsiert und gezerrt werden. Wo es die Verhältnisse zuliessen, sollten die Schlitten zusammengebunden und behelfsmässig betakelt, über den Firn gesegelt werden.

6. Der Nansen-Schlitten ist schmal, leicht und flexibel gebaut und weist einen tiefen Schwerpunkt auf.













Über unsere Speiseordnung ist in meinem Tagebuch unterm 28. Juli folgendes eingetragen: Dr. S. kocht fast immer. B. oder ich rühren des öftern den Pemmikan [16] an und machen den Kaffeebrei, weil S. die nötige Liebe in diese kapitalen Kleinigkeiten, seinem Naturell nach, nicht hineinlegen kann und will. Wir kriegen jeden Tag 13 Kakes und eine Pumpernickelschnitte. Morgens nach der Ankunft Suppe aus 4 Maggi; dazu 30-40 Gramm Pemmikan hinein; dazu Fleischkonserve, Fleischpastete meistens, oder hochgeschätzte ‚Frankfurterchen’ (die letzten heute Morgen). Dazu Schinken, von Stolberg geschnitten (anfangs furchtbar klotzig); von mir verteilt. Ich verteile auch etwas Honig zu den Kakes als Nachtisch. Baebler isst keine Butter, bekommt also etwas mehr Honig, besonders seit der Speck alle ist. Nachmittags 3 Uhr nach dem Erwachen der beiden andern gibt's meist einen kleinen Tee mit 2 Kakes und einer Spur Honig und Butter. Abends 8 oder 9 Uhr gibt's Kaffee oder Kakao komplett (mit Schinken, Butter), bis zum 26. Juli auch Käse, Honig, alle 4 Tage eine Fruchtkonserve. Bei dieser Kocherei wird auch die Thermosflasche mit heissem Tee oder Kakao (oder Maggibouillon p.s.) für die Nacht gefüllt. A noter: Dr. S. lehnt ab, sich an bestimmte Beziehungen zwischen der Menge des verwendeten Materials und des Wassers zu halten. Öfters ist die Suppe wässerig – aber man hat Durst; öfters auch der Kakao. Namentlich anfangs musste man seine superiore Behandlungsweise solcher Kochfragen durch starken Milchzusatz korrigieren – es lässt sich überhaupt sagen, dass er in unkontrollierbarer Weise kocht und im Allgemeinen lieber das Minimum von Kochenszeit, Rührenszeit, Knollenzerdrückungszeit anwendet. Hier lässt ihn sein Idealismus ‘bis zum Ende‘ [im Original Griechisch] völlig im Stich. Aber die Hauptsache: er kocht und hat von seinem Bedürfnis, es sich unter gegebenen Umständen doch möglichst bequem zu machen, manchmal erfreuliche Einfälle, und im Allgemeinen einen guten Humor, der auch durch die Kritik des Volkes nicht so leicht erschüttert wird. Das Volk, das waren Baebler und ich, und wie aus diesem Tagebucherguss ersichtlich, war das Volk zur Kritik manchmal sehr aufgelegt.“ [17]

Während einer 26 Tage langen tour de force drangen Stolberg, Baebler und de Quervain mehr als 100 Kilometer ins Inlandeis vor. Doch auch nach 80 Kilometern Entfernung von der Küste gerieten sie noch in Sérac-Zonen und an Dutzende von bis zu 20 Meter breite Spalten. Das zwang sie zu weiten Umgehungen und zu riskanten Manövern über Schneebrücken. Wegen Proviantmangels und ungenügenden Tagesleistungen, verursacht durch das kräftezehrende Schlittenziehen, musste de Quervain schliesslich einsehen, dass das Vorhaben so nicht durchführbar war. Er und Baebler stiessen auf Schneeschuhen und ohne die Schlitten, noch weiter gegen Osten vor. Auf dem höchsten Punkt ihrer Reise, auf 1'700 Metern über Meer, machten sie eine Anzahl von Sonnenbeobachtungen zur Längenbestimmung. „Einen letzten Blick warfen wir über den ganzen Eishorizont; am längsten blieb er im Osten haften. Jetzt, wo wir freie Bahn hatten, wo wir uns so stark und unternehmungsfreudig fühlten, umkehren zu müssen! Bitter! bitter! Wir werden wiederkommen!! Wir wandten uns um, fuhren den Abend und die Nacht hindurch“. [18] In 30 Stunden hatten sie 85 Kilometer bis zu ihrer Rückkehr zum Zeltlager zurückgelegt, während Stolberg allein auf dem Eis auf sie gewartet hatte. Streckenweise auf den Schlitten segelnd, kehrten sie darauf gemeinsam an die Küste zurück. 

„In unserm Zelt hatte in den ersten Tagen eine erhebliche Unordnung und Platzmangel geherrscht. Besonders der grosse Stolberg konnte sich mit den beschränkten Abmessungen nie abfinden. Aber von Tag zu Tag schien uns das Zelt grösser zu werden; und schliesslich wurden auf der 2 Meter mal 2,30 Meter grossen Grundfläche regelmässig folgende Räumlichkeiten abgegrenzt: die drei Schlafzimmer von Dr. S., B. und Q.; die Bibliothek samt Arbeitszimmer und Chronometerraum, für Q. reserviert; das waren die noblen Räume, welche die grüne, wasserdichte Decke zur Grundlage hatten und nicht mit schmutzigen Schuhen betreten werden durften. Dazu kamen als Dependenzen die Küche, der Vorratsraum und die Schuh- und Kleiderkammer. Man sieht, Raum ist in der kleinsten Hütte – auch ohne den Schillerschen Zusatz.“ [19]

Wie de Quervain von der neuartigen Landschaft in Bann gezogen war, erschliesst sich aus einem Tagebucheintrag vom 15. Juli 1909. Am zehnten Tag ihrer Reise, nachdem er von einer Rekognoszierungstour zurückkehrt war, trug er darin ein: „Der Eindruck dieser unabsehbaren Mulden und flachen Höhen ist gewaltig. Ich bin ungeduldig, hineinzukommen.“ [20] Pro Tag hatte ihre durchschnittliche Reisegeschwindigkeit zehn Kilometer betragen.

Drei Jahre später, mit knapp dreissig Hunden, sollte sie dann mehr als das Doppelte betragen. Er wusste nun, wie man sich auf dem Eis zu organisieren hatte: Tagsüber entstand Schmelzwasser und die Schneebrücken über die Gletscherspalten wurden brüchig. Das erforderte die Umstellung des gewohnten Tagesablaufs. Nachts um zehn Uhr wurde aufgebrochen und um zwei Uhr eine Pause eingelegt. Darauf wurden die Schlitten bis zum Morgen weitergezogen und das Zelt aufgeschlagen. Eis oder Schnee mussten geschmolzen werden. Anschliessend wurde gekocht und ausgeruht. Zusätzlich hatte de Quervain mittags den Sonnenstand zu messen. Um sechs Uhr abends erneut. Die anschliessenden Berechnungen erforderten jedes Mal eine weitere Stunde, was ihn viele Stunden wertvollen Schlafs kostete.

Eine verstörende Erfahrung machte er nach ihrer Rückkehr vom Inlandeis in das Zeltlager an der Küste: „So oft ich erwachte, sah ich mich inmitten einer Eislandschaft: die hohen Wände des Ainuk, die nahe Klippe, die Gneishügel, der Boden vor dem Zelt: alles drohendes Eis. Ich trat vor das Zelt, steckte die Füsse ins Wasser; endlich wich die Verzauberung. Aber so oft ich wieder erwachte und zum Zelt hinaussah; wieder war die Eislandschaft da; vergebens rieb ich die Augen, vergebens suchte ich mich verstandesmässig vom Gegenteil zu überzeugen, mir die rotbraune Farbe der Felsen, das Grün der Grasflecke zu vergegenwärtigen. Alles half nichts, bis ich wieder vor das Zelt hinausging und den Boden und die Felsen anfasste. Ich merkte erst jetzt, dass die Anforderungen der letzten Tage und Wochen bis an die Grenze des Möglichen gegangen waren; für mich wohl mehr als für die andern, weil die Sorge und Verantwortung, wie wir uns aus der Sache ziehen würden, doch im wesentlichen auf mir allein lag, und weil ich meistens nur vier bis fünf Stunden Schlaf gehabt hatte, zwei Stunden weniger als die andern. – Die Eishalluzination verfolgte mich später noch lange auf dem Dampfer. Selbst das Schlagen der Schiffsschraube und das Betasten der Kajütenwand konnten mich manchmal nachts nicht überzeugen, dass wir nicht in einer Eisspalte steckten. Solange ich auf dem Eis unterwegs gewesen war, war ich ruhig und meiner selbst sicher geblieben.“ [21]

Zu den Vorbereitungen zur zweiten Expedition gehörte auch, dass sich de Quervain und Baebler auf der Schiffsreise nach Norden zwei Kajaks von den Einheimischen gekauft und das Fahren damit erlernt hatten. Für den Hünen Stolberg hätte ein grösseres extra gebaut werden müssen, wofür die Zeit jedoch nicht ausgereicht hatte. 

Die Schweizerische Grönland-Expedition
De Quervain vermutete, dass die Mittelbeschaffung für seine zweite Expedition im Ausland einfacher sein würde, als in der Schweiz. Sein Wunsch war es jedoch, eine schweizerische Expedition zu verwirklichen. Von François-Alphonse Forel und dem Präsidenten der Genfer Geographischen Gesellschaft Raoul Gautier (1854-1931) [22] wurde er darin ermutigt und er fand tatkräftige Unterstützung bei ihnen. De Quervain gelang es in den folgenden beiden Jahren, die budgetierten Mittel über 30'000 Franken zu beschaffen. Gelder für wissenschaftliche Reisen aus einer Stiftung der Eidgenossenschaft oder einem Legat der ETH waren de Quervain wegen einschränkender Bestimmungen verwehrt geblieben. Schliesslich brachten naturforschende, akademische und geographische Gesellschaften, Private und Stiftungen den Grossteil der benötigten Mittel zusammen. Als der Bundesrat auf Antrag der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft die Übernahme eines Drittels der Kosten abgelehnt hatte, steuerte die NZZ aus ihrem Dispositionsfond die fehlenden Mittel bei. Sie sicherte sich dafür die exklusive Berichterstattung. Die Expedition war also ausschliesslich aus privaten Mitteln finanziert worden. [23]

Die Rekrutierung der Expeditionsteilnehmer betrieb de Quervain nicht aktiv, denn er wollte niemanden in eine Sache hineinziehen, deren Risiken nur er selbst glaubte abschätzen zu können. Falls die Überquerung scheiterte, sollte die Unternehmung auch nicht ohne Resultate bleiben. Er schuf zwei Gruppen: Die Westgruppe sollte glaziologische Untersuchungen und im darauffolgenden Winter aerologische Messungen auf der Insel Disko durchführen. Damit hatte er sich auch eine Helfermannschaft geschaffen, um mit ihrer Hilfe die Schlitten durch die Sérac-Zone auf das Inlandeis zu befördern. Diese Gruppe stand unter der Leitung Paul-Louis Mercantons (1876-1963). [24] Seine Mitarbeiter waren August Stolberg sowie der Mathematiker Wilhelm Jost (1882-1964). [25] Die beiden überwinterten dann 1912/13 auf der arktischen Station der Insel Disko. „Ihre Messungen, im Ganzen 120 Pilotballonaufstiege, ergeben die wichtige Tatsache, dass auch in den Wintermonaten ein einheitlicher Polarwirbel selbst in höhern Schichten durchaus fehlt“, [26] bilanzierte de Quervain die Ergebnisse dieser Gruppe im über vierhundert Seiten starken wissenschaftlichen Bericht der Expedition, der wegen des Ersten Weltkriegs erst 1920 erscheinen konnte.

7. Nansen-Kocher.
Dieses Mal kamen Nahrungsmittel für acht Wochen mit. Für die Hunde war der Vorrat auf vier Wochen berechnet worden. Das Gewicht einer Tagesration pro Mann betrug ein knappes Kilogramm, der Brennwert belief sich auf etwa 3'800 Kilokalorien. [27] Pemmikan war erneut das wichtigste Lebensmittel. Für Mensch und Hund.

„Gebt mir Hunde!“
Ein wesentliches Glied zum Gelingen der Expedition fehlte noch: Schlittenhunde. Die Losung „Gebt mir Hunde!“ stammt von Knud Rasmussen. In ihr drückt sich sein Wunsch nach langen Reisen durch die Arktis aus. Das Wissen auch um das symbiotische Verhältnis zwischen dem Mensch und dem Hund. Hunde machten solche Reisen erst möglich und prägen ihren Charakter wesentlich. Diesmal sollte die Schweizerische Grönland-Expedition möglichst früh auf das Inlandeis gelangen – Die Spaltenzonen waren dann noch zugeschneit und damit für die Hunde passierbar. Am 2. April 1912 fuhren de Quervain und seine Leute mit der Hans Egede in Kopenhagen ab.

Prompt gerieten sie in einen Frühjahrssturm. Zehn Tage lang hielt er an. Bei der Überfahrt von Kopenhagen nach Godthab (heute die Hauptstadt Grönlands mit dem Namen Nuuk) litten praktisch alle Expeditionsmitglieder unter Seekrankheit. „Gestern brachte mir Mercanton zum Lesen ein Buch über den Neobuddhismus. Man weiss, dass dieser ausgeht von der Tatsache des grossen allgemeinen Leidens und nach dessen Grund fragt. Wer acht Tage mit Hans Egede gefahren ist, dem ist eine schnelle Antwort möglich auf diese Frage, und er wird sie in die Form des Stolbergschen Axioms kleiden: Es gibt zu viel Wasser! –“ [28]

8. Die Überquerungsgruppe: Roderich Fick, Karl Gaule, Alfred de Quervain und Hans Hössli.

























Nachdem das Schiff im mittelgrönländischen Holsteinsborg angedockt hatte (heute: Sisimiut), wurde die Überquerungsgruppe sofort nach Sarfanguaq verlegt, einer kleinen Siedlung im Südosten. Hier sollte das „Hundekutschieren“ beim Grönländer David Ohlsen trainiert werden. Begonnen wurde mit Trockenübungen in der Handhabung der Peitsche. Dann wurde es ernst. „Die Tagesordnung war etwa folgende: Am Morgen früh Besprechung der Bosheiten, welche die Hunde nachts verübt haben konnten; das bezog sich vor allem auf das Auffressen ihrer Geschirre und Zugriemen.“ [29] Also musste die Reparatur der ledernden Geschirre erlernt werden. Auf zwei gefrorenen Bergseen wurden das Fahren und die dafür notwendigen Kommandos für die Hunde geübt. Im Hinblick auf den „Abstieg“ vom Scheitelpunkt des Inlandeises kam dann das Bergabfahren an die Reihe. Im Umgang mit den Hunden hatte Hössli die schnellsten Fortschritte gemacht. Nach zehn Tagen konnte Ohlsen aber allen das „Maturitätszeugnis“ mit den Worten erteilen: „Nu tamase ajungilak“. [30]

Zurück im Küstenort Holsteinsborg, dauerten die weiteren Vorbereitungen oft bis weit in die Nacht. Hössli, der Mediziner, war wegen einer Grippeepidemie gefragt. Auch eine Unterleibsoperation nahm er erfolgreich vor. Meteorologische und luftelektrische Messungen wurden durchgeführt. Um für etwas Abwechslung im Einerlei des Alltags zu sorgen, waren auf „besonderen Beschluss“ alle Geburtstage der Teilnehmer in die Expeditionszeit verlegt worden.

Exkurs: Navigation 
Die Alpen setzen sich aus Abertausenden von Geländekammern zusammen: Grate, Talsohlen und Bäche bilden dabei die Auffanglinien. Hier stösst man immer auf eine solche. Kann eine Koordinate nicht festgestellt werden, kann man sich – mehr oder weniger komfortabel – an einer Auffanglinie im Gelände entlang „hangeln“, bis man auf einen markanten Punkt stösst, der nun auf der Karte identifizierbar ist. Auf dem Inlandeis Grönlands existieren keine solchen Merkmale. Die Auffanglinie war der Ostgrönlandstrom in 700 Kilometer Entfernung. Die Koordinate bildete die einzige Siedlung an der 2’500 Kilometer langen Küste. Die bisher angewandte Praxis, sich in den kleinen, steilen Geländekammern der Alpenbewohner zu orientieren, erforderte hier die Umstellung auf die navigatorischen Künste der Seefahrer.

9. Mitternachtshalt auf dem Inlandeis. Baebler und Stolberg im Sommer 1909.




















Die Sonnenstandsmessungen mittels Sextanten ergaben eine auf etwa 200 Meter genaue Positionsbestimmung in Nord-Süd-Richtung. In Ost-West-Richtung eine auf 500 bis 1’000 Meter genaue. Aus fünf Peilungen wurde jeweils das Mittel genommen. Um im Notfall Hilfe zu erhalten, dafür existierten keine Mittel. Oder nur in primitiver Form und mit grosser zeitlicher Verzögerung. Zudem kann es unter bestimmten polaren (und auch hochalpinen) Bedingungen zu Sinnestäuschungen kommen. In einem ungeahnten Ausmass kann der Whiteout mental und körperlich „zu Buche schlagen“.

„[…] Ich wusste, dass man in Bezug auf die wirklichen Neigungsverhältnisse des vor einem liegenden Wegstückes, namentlich beim Abstieg, den stärksten Täuschungen ausgesetzt wird. Es kann vorkommen, dass man da lange voraus mit Besorgnis einer vermeintlich steilen Gegensteigung entgegensieht, über die man die Schlitten nur mit festem Einstemmen der Steigeisen erwartet mühsam hinwegbringen zu können. Ist man aber einmal ‚dort‘ angelangt, so kann man finden, dass der vermeintliche starke Gegenanstieg von einigen 50 m Höhe sich nun als kilometerweite, vielleicht noch sanft abfallende Ebene herausstellt!“ [31] 

Bei klarer Sicht tritt ein anderes Phänomen auf: Hat das Auge einmal einen fixen Punkt ausgemacht, eine durch Schattenwurf verdunkelte Spalte etwa, wird man in Bezug auf die Distanz immer wieder aufs Neue genarrt. Schätzt man, dass der Punkt in einem einstündigen Fussmarsch zu erreichen ist, erweist sich nach Erreichen des Ziels, dass man das Dreifache der Zeit dafür benötigt hat.

Uhren bildeten das Herzstück der Expedition. Das Erfordernis zu einer exakten astronomischen Ortsbestimmung war, dass sie äusserst genau funktionieren. „Als diese spiegelblanken kleinen Wesen sich mir zum erstenmal präsentierten in ihren Wiegen aus Samt und Mahagoni und träumerisch und unschuldig tickend, da taten sie mir fast leid, wenn ich dachte, in welch bedenklichen Lebenslagen und in welcher schlimmen Umgebung sie nun ihre zarte Tugend bald bewähren sollten. Aber ob sie mit uns auf dem Kopf standen oder im Eiswasser schwammen, sie blieben taktfest und bewiesen, dass sie aus gutem Hause waren.“ [32]

10. Rast auf dem Inlandeis, unbekannter Künstler
Während der Überquerung konnten zweimal während zweier aufeinander folgender Tage überhaupt keine Sonnenpeilungen vorgenommen werden. In diesen Fällen, und tagsüber, kam der Kompass zum Einsatz. Manchmal gelang es auf den gleichförmigen Flächen allerdings nicht, ein Ziel anzuvisieren. Da die Windrichtung eine grosse Konstanz hatte, wurde Kurs gehalten, indem Seidenbändel am Skistock oder am Eispickel befestigt wurden. Die Marschrichtung wurde dann durch den zuvor bestimmten Winkel eingehalten. War kein Wind vorhanden, was selten vorkam, oder schien die Sonne, wurde eine Art von kursweisender Sonnenuhr benutzt: Auf den Skiern hatten sie eine Windrose aufgemalt und mit dem senkrecht eingesteckten Skistock wurde das Azimut kontrolliert. Herrschte Schneetreiben wurde ein Mann vorausgeschickt. Mittels Peilung vom vordersten Schlitten aus, wurde er mit Fähnchen eingewiesen. Wegen der Eisenteile des Schlittens und der Ausrüstung musste dabei die Deviation berücksichtigt werden. Die zurückgelegte Wegstrecke wurde mit einem vom Antarktisforscher Ernest Shackleton entwickelten sledgemeter ermittelt: einem Rad von 60 Zentimetern Durchmesser, das mit einem Zählwerk verbunden hinten am Schlitten befestigt war. Da es auf weichem Schnee ungenau war, kamen Schrittzähler zum Einsatz. Am Hosenbund befestigt, übertrug eine am Knie befestigte Schnur den Gang auf ein Zählwerk. Damit die exakten Werte ermittelt werden konnten, war die „Normalstossweite“ von einem Meter Länge auf den Skiern markiert worden.

Das Höhenprofil und Oberflächenband des Inlandeises
Robert Edwin Peary hatte zu Beginn der 1890er-Jahre ein Forschungsprogramm für Grönland aufgestellt: Drei Überquerungen seien notwendig, um sich eine genauere Vorstellung von der Beschaffenheit des Eisschildes zu machen. Fridtjof Nansen war Peary im Jahr 1888 mit seiner Erstüberquerung jedoch zuvorgekommen. Worauf der verärgerte Peary seinen Ehrgeiz auf „grössere“ Herausforderungen verlegte.

11. Siedepunktsapparat.
Dass es sich um einen zusammenhängenden Eisschild handeln musste, zeichnete sich nach Nansens Überquerung zwar ab, war aber noch nicht hinreichend geklärt. Bis zur ersten Überquerung hatten die Spekulationen gewuchert: dass im Innern Grönlands Wälder oder Oasen zu finden seien. Dass dort gar die sagenhaften Hyperboreer zu finden seien. Mit einer Ungewissheit mussten de Quervain und seine Mannschaft aber leben. Dass sich ihnen einzelne durch das Eis stossende Berge, Nunatakker, oder ganze Bergketten in den Weg stellen könnten. Diese Sorge erwies sich dann als unbegründet.

Hauptaufgabe der Expedition war die Erstellung eines exakten Höhenprofils. Täglich wurde dafür die Temperatur siedenden Wassers gemessen und daraus der Luftdruck ermittelt. Zur gleichen Zeit wurden an den beiden Küsten Referenzmessungen gemacht. „Es ist hierbei der Gesichtspunkt nicht aus dem Auge zu verlieren, dass Messungen, wie diese hier, nicht nur für uns selbst die gegenwärtigen Verhältnisse festlegen, sondern den vielleicht noch wichtigeren Dienst leisten sollen, spätern Generationen zur Basis für die Untersuchung säkularer Variationen oder fortschreitender Veränderungen zu dienen. Da aber spätere Nachmessungen jedenfalls mit grösserer Genauigkeit arbeiten werden, hängt die Genauigkeit einer solchen Veränderungsbestimmung, ja überhaupt die Möglichkeit ihrer Ausführung innerhalb einer irgend menschlich absehbaren Frist zum grössten Teil von der Zuverlässigkeit der ersten Messung ab.“ [33]

12. Höhenprofil des Inlandeises.








Wie die Oberfläche des Geländes beschaffen war, wurde an jedem Zeltplatz durch Horizontaufnahmen nach den acht Hauptrichtungen mit einem Theodolit und Entfernungsschätzungen ermittelt.

13. Itinerar des Inlandeises, 1:1'000'000. Äquidistanz 10 m, Randgebiete 50 und 100 m (Ausschnitt).











Auf dem Inlandeis 
Sonntag, der 7. Juli 1912: Die ganze Mannschaft liegt wie „in Abrahams Schoss“ [34] in Schlafsäcken aus Fellen junger Rentiere. Draussen herrscht Schneetreiben. Es ist ihr erster Ruhetag seit ihrer Ankunft mit der Fox am 10. Juni im Ata-Sund, der etwa 70 Kilometer nördlich von Jakobshavn liegt. Zehn Tage hatten sie benötigt, um das gesamte Material von der Küste an den Rand des Ekip Serma, zu transportieren. Auf dem Eisstrom waren sie wie auf einer Rampe von der Küste auf das Inlandeis gelangt. Schwierigkeiten hatte es bereitet, weitere Helfer für die Transportarbeiten zu rekrutieren. Und sie dann auf dem Inlandeis auch noch zu halten. Grönländer betrachteten die Jagd auf Seehunde, tagelanges Kajakpaddeln oder stundenlanges Schleppen schwerer Rentierkeulen nicht als Arbeit. Alles andere hingegen überliessen sie lieber den Frauen. Gute Bezahlung, Mitbringsel aus der Schweiz und der europäische Anzug de Quervains, den er ihrem Anführer Vitus nach Abschluss der Arbeit in Aussicht stellte, hatten dann aber auch bewirkt, dass sie ihre Furcht vor den Erkilikern oder Timersetern überwinden konnten, den Geisterwesen, die auf dem Sermerk hausen. Von ihnen und der Westgruppe waren sie noch zwei Tage lang auf dem Inlandeis begleitet worden. Die zurückgelegte Distanz bon der Küste bis zum 16. Zeltplatz beträgt bereits 280 Kilometer. So können sie sich heute einen Ruhetag genehmigen. In der „Bundeslade“ befinden sich nicht nur ihre Messinstrumente, sie enthält auch eine Bibliothek: Schopenhauers kleinere Schriften sind dabei, Goethes Faust, ein Testament im Urtext und Nietzsches Zarathustra. Ein „Sechsmännerbuch“ auch, ein Sammelband mit Schauspielen, den eine Schwester de Quervains für sie zusammengestellt hatte. Im Einvernehmen mit dem Expeditionsleiter schmuggelte Gaule auch noch ein Werk des Physikers Ernst Mach mit. Um sich, falls sie an der Ostküste eingeschlossen würden, bei der Überwinterung die langen Nächte vertreiben zu können.

„Ich will nicht die Geduld Fernerstehender und die Glaubenskraft Näherstehender über Gebühr in Anspruch nehmen, indem ich eingehender schildere, welche wunderbare Ordnung in unserem Zelt herrschte. Aber ich für mich erbaue mich dennoch an der Erinnerung, dass ich in meinem ganzen Leben früher nie auch nur entfernt ein so ordentlicher Mensch war wie damals auf dem Inlandeis. Was beweist das? Für mich jedenfalls das eine: Ein wie viel, d.h. glücklicherer Mensch man sein kann, wenn man keine Briefe, keine Zeitungen bekommt. Ich ziehe einen mittleren Schneesturm einem gefüllten Briefkasten vor. Was bedeuten diese papierenen Geschosse anderes als tausend Versuche der Freiheitsberaubung? Und wie ist das herrlich, einmal seines Weges zu ziehen, statt als Resultante aus einem bisschen eigenen Willen und vor allem aus hundertfachem Gezerrtwerden an all den Verpflichtungs-, Respekts- und Bereitwilligkeitsfäden im Zickzack sich zu bewegen, ein gehorsamer Hampelmann! Wir aber zogen u n s e r e s Weges, einzig und allein u n s e r e s Weges; ohne Wegweiser, ohne eine Obrigkeit, die Gewalt über uns hatte.“ [35] 

Und als der Wind einige Tage später brutal an den Zeltwänden rüttelte, rief Hans Hössli aus: „’Er macht’s dänk wie dä uf em Dach.’ Wie der auf dem Dach? Grosse Spannung! ‚Er hets g’macht, wiener het welle’ war die klassische Antwort. Und ‚dä uf em Dach’ wurde von da an geistiges Gemeingut der Expedition, wurde in guten und bösen Tagen unser beständiger Begleiter, geradezu das fünfte Mitglied, ich durfte ihn nicht unerwähnt lassen.“ [36]

14. Zeltplatz Nr. 21 auf 2'510 MüM: Hössli, Fick, Gaule und de Quervain am 13. Juli 1912.






















Als sie die Gipfel der Küstengegend am Horizont bereits erkennen konnten, gelangen ihnen zweimal Tagesleistungen von 42 und 45 Kilometern. Am letzten Tag auf dem Inlandeis durchlitt de Quervain die schlimmsten Momente der ganzen Expedition. Er war allein und ohne Schlitten der Gruppe vorausgegangen, um nach einer Passage durch die immer zahlreicher auftretenden Spalten im abschüssigen Gelände zu suchen. Weil das Gelände immer gefährlicher wurde, entschloss er sich aber zur Umkehr, um seine Kameraden zu warnen. Doch die waren aus seinem Blickfeld verschwunden. Ob die Schlittenführer die Gefahr nicht rechtzeitig bemerkt hatten? Die ungestümen Hunde nicht hatten gestoppt werden können? Das Unglück bereits geschehen war? Er konnte seine eigenen Skispuren nicht mehr erkennen. Der Firn war zu hart. Nach langer, gehetzter Sucherei stösst er schliesslich auf die Spuren der Schlitten. Nach zwei Stunden trifft er bei seinen Kameraden beim Zeltplatz Nr. 29 ein. In der Annahme, dass er es bemerkt hätte, hatten sie von sich aus nach einem Weg gesucht. An diesem Tag war de Quervain „fertig –“. [37]

15. De Quervain in der Umgebung von Ammassalik.
Bei den Bewohnern der Ostküste 
Überraschend für de Quervain war, dass Ammassalik nur aus drei Holzhäusern, einer Kirche und ein paar Torfhäusern der Inuit bestand, wo zur Siedlung doch etwa 400 Menschen gehören sollten! Der übernächste Tag nach seiner Ankunft war ein Samstag und es tauchte ein ganzes Geschwader mit Umiaks und Kajaks auf. Die Menschen wollten in der Butik Tauschhandel treiben und am Sonntag die Kirche besuchen. Sonst lebten sie weit verstreut an den Ufern der vielen Fjorde.

De Quervain war von ihrer Lebensweise fasziniert: „Ist endlich eingekauft, so ist ihr Nachtlager schnell fertig. Sie tragen die grossen Frauenboote ans Land und kehren sie um, und das ist ihr Zelt. Wenn sie ihre hellen Tranlampen drin angezündet haben, bietet es einen fesselnden Anblick, durch die durchscheinende Bootshaut hindurch die dunkeln Gestalten da drunter hantieren zu sehen; phantastische Schattenbilder, denen zuzuschauen man nicht müde wurde.“ [38] 

Die Inuit hatten auch ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit. An der Westküste hatte de Quervain die Geschichte von einem dänischen Beamten gehört, der ein paar Inuit damit beauftragt hatte, von der anderen Seite des Fjords Gras für seine Ziege zu besorgen. Als sie auch nach Tagen nicht zurückgekehrt waren und man ein Unglück befürchten musste, liess er nach den Vermissten suchen. Sie wurden wohlauf in einem Zeltlager gefunden. Das Gras wäre noch zu kurz gestanden und so hätten sie beschlossen zu warten, bis es länger würde, beschieden sie der Suchmannschaft. Und hier an der Ostküste, vor der Eröffnung der Handelsstation, war man 2'000 Kilometer nach Südgrönland gepaddelt, um Tabak zu besorgen. Die Christianisierung war noch nicht abgeschlossen. Erwachsene nutzen den langen Winter, um den Taufunterricht zu besuchen. Dafür wurde im Sommer davor ein Torfhaus in der Siedlung errichtet. Vereinzelt traf er auf Männer, die ihr Haar noch lang trugen. Ein Zeichen, dass diese sich den neuen Bräuchen noch nicht unterzogen hatten. De Quervain bedauerte, dass übereifrige Katecheten von der Westküste das Singen und das Schlagen der Trommel verboten hatten. Ganz bewusst hielt er sich zurück, Gebrauchsgegenstände, etwa Kochgefässe aus Speckstein, als Museumsstücke gegen das Emaille-Geschirr der Europäer einzutauschen. Den Übergang zur modernen Lebensweise wollte er damit nicht noch beschleunigen.

16. Elisabeth de Quervain mit der Familie Guithi.
Als Elisabeth de Quervain mit dem Zug aus der Schweiz nach Kopenhagen reiste und sie sich Anfang August 1912 nach Grönland einschiffte, konnte sie nicht wissen, wie es ihrem Mann und seinen Kameraden ergangen war. Drei Wochen dauerte die Überfahrt nach Grönland. Sie war der einzige Passagier unter einer 17-köpfigen Besatzung. Auch in diesem Jahr war es der Goodthaab gelungen, eine Passage durch den Treibeisgürtel vor der Küste zu finden. Manchmal gelang das auch nicht, und das Schiff musste umkehren.

Nur einen guten Monat zuvor hatte dieses Schiff viel weiter im Norden, knapp unter dem 77. Breitengrad, den Naturhafen Danmark angelaufen. Dort waren Alfred Wegener und Johan Peter Koch, der isländische Pferdebetreuer Vigfus Sigurdsson (1875-?) sowie Schiffer Lars Larsen (1886-?) mit 16 Islandponys abgesetzt worden. Rund 20 Tonnen an Ausrüstung, Lebensmittel und Heu wurden gelöscht. Nach der Überwinterung in einem vorfabrizierten Holzhaus sollte im Sommer 1913 von dort aus zur dritten Überquerung des Inlandeises aufgebrochen werden. Auch diese Überquerung gelang. Nur ein Pony überlebte die Strapazen.

Am 29. September lief das Schiff mit dem Ehepaar de Quervain und der Expeditionsmannschaft in den Hafen der dänischen Hauptstadt ein. Paul-Louis Mercanton stand unter vielen Neugierigen am Pier. Als letzter hatte er sie auf dem Inlandeis an der Westküste verabschiedet und nun begrüsste er sie mit seiner Frau als Erster. Dann kam es zu einem Zwischenfall. Auf die Frage Mercantons nach allfällig vorhandenen Waffen, schoss de Quervain seine Signalbüchse mit ihrem „kanonenähnlichem Lauf" ab: „Drüben war Hutabziehen und Gewehr abschiessen ein und dasselbe gewesen.“ [39]

Kurz darauf zog er ein erstes Resümee: „Und zu dem, was uns, oder wenigstens mir da offenbar wurde, gehört die klare Erkenntnis, dass wir, die wir uns als Kulturträger für weise halten, mit unserem Prinzip des ‚Immer schneller’ und ‚Immer mehr’ zu Narren geworden sind! Dadurch, dass es zehnmal geschwinder geht, dass wir an einem Tag zehnmal soviel hören, sehen und treiben können, meinen wir wohl den Lebensinhalt zu verzehnfachen? Wenn nun aber der Eindruck im gleichen Masse dürftig wird, als er flüchtiger ist? Was ist da gewonnen? Es ist doch – wird man einwenden – wenigstens nichts verloren; denn einmal zehn oder zehnmal eins gibt dasselbe. Schon das ist fraglich! Aber wir stehen hier an der Grenze, von der an das unveränderliche Gesetz unserer Seele so lautet: Wenn die Eindrücke, die auf uns eindringen, zehnmal schneller daherstürmen, so wird dafür ihre Wirkung um das zehnmalzehnfache geringer. Und das Ergebnis ist dies, dass wir, je hastiger wir leben, umso ärmer werden! Das ist die kleine Wahrheit, die mich das Inlandeis, die Mitternachtssonne und die hundert Fältchen des alten Kitsigajak gelehrt haben; sie ist ein Expeditionsresultat und darf nicht unterschlagen werden.“ [40] 

Anmerkungen 
1. Roderich Fick studierte Architektur an den Technischen Universitäten München und Dresden sowie an der ETH. Nach einem Intermezzo in Kamerun erhielt er 1936 eine ordentliche Professur für das Entwerfen von Bauten an der Technischen Universität München. Im süddeutschen Raum schuf er ein umfangreiches architektonisches Werk nach den Grundsätzen des Heimatschutzstils und des deutschen Werkbundes. HDBG.

2. Karl Gaule studierte an der ETH Zürich und soll der verheerenden Grippe-Epidemie von 1918/19 zum Opfer gefallen sein. Weitere biographische Angaben waren bisher nicht zu ermitteln.

3. Hans Hössli studierte Medizin und legte seine Promotion in Basel ab. 1916 Habilitation für Chirurgie an der Universität Basel und für chirurgische Orthopädie an der Universität Zürich. 1917 folgte er Wilhelm Schulthess, dem Direktor der Schweizerischen Anstalt für krüppelhafte Kinder Balgrist nach und wurde Dozent an der Universität Zürich. Hössli starb an einer Pneumonie während der verheerenden Grippe-Epidemie von 1918. Er hatte breite medizinische Forschungsinteressen und war ein erfahrener Alpinist. Wegen seiner Fröhlichkeit und seiner Fürsorge war er bei seinen Kameraden wie auch bei den Inuit gleichermassen beliebt.

4. Das Frauenboot oder Umiak diente den Inuit für längere Fahrten, wenn sie im Sommer ihre Lagerplätze wechselten und die ganze Sippe und der Hausrat transportiert werden musste.

5. Das Wort Inuit bedeutet Menschen. Zur Besiedlungs-Geschichte der Ostküste: Vom 16. bis 19. August und erneut am 23. und 24. August 1823 sichtete der Brite Douglas Charles Clavering (1794-1827), Kapitän des Expeditionsschiffes Griper, auf einer Bootsfahrt zur später nach ihm benannten Clavering-Insel auf dem 74. Breitengrad zwölf Thule-Inuit. Um die Nordseite Grönlands herum nach Süden vorstossend, besiedelten sie auch die Ostküste. Diese Begegnung gilt als die erste und letzte mit Thule-Inuit an der Ostküste. Um die reichen Jagdgebiete der nordostgrönländischen Küste zu nutzen, begannen norwegische Fänger ab 1889 dort zu landen. Weil die Bevölkerung Ammassaliks wegen schlechter Fangverhältnisse und familiärer Fehden dezimiert worden war, setzte Gustav Holm 1884 die Gründung einer Handels- und Missionsstation durch. Im Jahr 1924/25 gründete der dänische Polarforscher Ejnar Mikkelsen (1880-1971) mit etwa 80 jungen Grönländern aus dem Süden eine zweite Siedlung in Ostgrönland: Ittoqqortoormiit befindet sich 850 Kilometer nördlich von Ammassalik und zählt heute (2010) 469 Bewohner.

6. Der 1841 geborene François-Alphonse Forel starb am 8. August 1912. HLS. Schweizerland, Mont Forel und viele weitere topographische Namen, die einen Bezug zur Schweiz haben, finden sich auch heute noch auf den Karten Ostgrönlands.

7. Léon-Philippe Teisserenc de Bord, Meteorologe und Entdecker der Stratosphäre.

8. August Stolberg studierte Kunstgeschichte in München und in Strassburg Geographie und Meteorologie. Promotion mit einer kunstgeschichtlichen Studie über Tobias Stimmer in Bern. Ab 1923 war er als Museumsdirektor der Stadt Nordhausen tätig. Stolberg hielt sich bereits im Jahr 1907 in Westgrönland auf. Stolberg soll auf das Jahr 1918 eine eigene Grönlandexpedition geplant haben, die jedoch durch den Ersten Weltkrieg vereitelt wurde.

9. Auguste Piccard erlangte 1910 sein Diplom als Maschineningenieur am Polytechnikum Zürich. 1913 Promotion. 1915 Privatdozent, 1917 Professor für Mechanik und 1920 für Physik an der ETH Zürich, von 1922 bis 1954 Physikprofessor an der Freien Universität Brüssel. Entdeckte 1917 ein neues Uranium-Isotop. Piccard gilt heute als der erste Astronaut überhaupt: Mit wasserstoffgefüllten Ballons unternahm er 1931 und 1932 Flüge in die Stratosphäre; Auguste Piccard ist der Grossvater des „Solarfliegers“ Bertrand Piccard. HLS.

10. Quervain/Piccard: Beschreibung, S. 17.
11. Quervain/Piccard: Beschreibung, S. 13.
12. Quervain/Piccard: Beschreibung, S. 20.
13. Quervain: Beiträge, S. 109.
14. Quervain: Grönlandeis, S. 4.

15. Emil Baebler promovierte 1909 über Die wirbellose terrestrische Fauna der nivalen Region. Lehrer für Geographie am Kantonalen Gymnasium in Zürich. Als Bataillonskommandant während des 1. Weltkrieges und Oberst im Generalstab hatte Baebler auch einen Lehrauftrag für Militärgeographie an der ETH Zürich.

16. Pemmikan stammt von den nordamerikanischen Indianern und besteht aus einer Mischung aus getrocknetem Fleisch und Fett, dem auch getrocknete Beeren beigemischt sein können. Er kann roh oder mit Wasser gemischt und gekocht, als Brei oder Suppe gegessen werden.

17. Quervain/Stolberg: Eiswüste, S. 116 f.
18. Quervain/Stolberg: Eiswüste, S. 126.

19. Quervain/Stolberg: Eiswüste, S. 117 f. Dieser Zusatz lautet: „… für ein glücklich liebend Paar.“ Charlotte in Der Parasit (vierter Aufzug, vierter Auftritt).

20. Quervain/Stolberg: Eiswüste, S. 114.
21. Quervain/Stolberg: Eiswüste, S. 133 f.

22. Raoul Gautier. Studium in Genf und Leipzig, Promotion in Mathematik. Professor für Astronomie und Meteorologie an der Universität Genf. Von 1889 bis 1927 war er Direktor der Sternwarte und von 1895 bis 1918 Professor für physische Geografie. Von 1906 bis 1910 und von 1918 bis 1920 Rektor der Genfer Universität. Ab 1916 führte er den Vorsitz in der Eidgenössischen Kommission für Meteorologie und ab 1921 in der schweizerischen Kommission für Geodäsie. HLS.

23. Die Kosten betrugen effektiv 40'000 Franken. Das Defizit trug de Quervain nach der Expedition durch Dia-Vorträge ab, die er landauf und landab bestritt. Der Restbetrag wurde schliesslich von der Eidgenossenschaft übernommen.

24. Paul-Louis Mercanton. Geophysiker, Meteorologe und Glaziologe. Professor an der Universität Lausanne und von 1934-1941 Direktor der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt in Zürich. Mercanton war auch später noch in der Arktis tätig. So gelang ihm im Jahr 1921 die Erstbesteigung des 2'277 Meter hohen Beerenberg auf Jan Mayen, dem nördlichst gelegenen aktiven Vulkan der Erde. 1929 hielt er sich mit dem französischen Polarforscher Jean-Baptiste Charcot erneut auf der Insel Jan Mayen auf. HLS.

25. Der Bauernsohn Wilhelm Jost absolvierte zuerst das Lehrerseminar in Hofwil. Darauf studierte er an der Universität Bern und promovierte in Mathematik. Ab 1914 (oder 1917) war er bis 1952 als Physiklehrer an der Realschule des Städtischen Gymnasiums tätig. Jost war Alpinist und gehörte ab 1924 der Gletscherkommission der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft sowie der eidgenössischen Meteorologischen Kommission an. In den 1930er-Jahren war er an pionierhaften Untersuchungen zur Messung der Eisdicke alpiner Gletscher beteiligt. Nach seiner Überwinterung auf Disko durchquerte Jost im Mai 1913 die Insel auf Hundeschlitten und im August erforschte er das Gebirge im Norden der Insel.

26. Quervain: Quer, S. 248. Eine aussergewöhnliche Beobachtung machten Stolberg und Jost am 25. Februar 1913: Ballonaufstieg in Godhavn (heute: Qeqertarsuaq): Start 10:48, darauf folgende 3 h 15 Minuten dauernde Drift des Ballons nach Westen. Die ermittelte Höhe betrug 39 Kilometer. Die weiteste gemessene Entfernung eines Ballons betrug 132 km. Beide Werte versah de Quervain bei ihrer Publikation 1920 dann allerdings mit Fragezeichen. Die durchschnittlich gemessene Entfernung der Ballone betrug 24,5 km, ihr Eigengewicht 83 g, 200 g war der Auftrieb mit Wasserstoffgas, das von der Zeppelin-Werft geliefert worden war.

27. Zusammensetzung einer Tagesration pro Mann: 200 g Zwieback, 40 g Butter, 50g Schokolade, 100 g Fleisch, 200 g Pemmikan, 100 g Zucker (v. a. Honig), 50 g Trockengemüse und Suppenkonzentrat, 30 g Käse und ca. 125 g Milchpulver. Für Schwerstarbeiter werden heute etwa 4'200 Kilokalorien empfohlen.

28. Quervain: Grönlandeis, S. 17.
29. Quervain: Grönlandeis, S. 35.
30. Quervain: Grönlandeis, S. 38. Deutsch: "Jetzt geht alles gut".
31. Quervain/Mercanton: Grönlandexpedition, S. 33.

32. Quervain: Grönlandeis, S. 7 f. Zwei „Bordchronometer“ stammten von der bis heute existierenden Firma Ulysee Nardin (Le Locle). Ein weiterer vom bedeutenden Uhrenmacher Paul Ditisheim in La-Chaux-de-Fonds. Als „Beobachtungsuhr“ diente ein Chronograph von Girard-Perregaux, eine Taschenuhr mit Weckerfunktion wurde auf Ortzeit eingestellt. Die ganze Mannschaft brach, de Quervain mit zwei der drei „Bordchronometer“ und dem Chronographen, die er auf sich trug, zu Beginn der Expedition in einen Gletschersee ein. Dabei geriet er wiederholt unter Wasser. Der Chronograph stand darauf still, konnte aber nach der Trocknung wieder zum Laufen gebracht werden. Eine der beiden Chronometer zeigte später kleine Änderungen im täglichen Gang.

33. Quervain/Mercanton: Grönlandexpedition, S. 22. Die Genauigkeit der Ablesung betrug 1/300º Celsius.

34. Quervain: Grönlandeis, S. 68. Lazarus lag nach einem Leben in bitterer Armut im Himmel in Abrahams Schoss, während der egoistische Reiche in der Hölle landete (nach Lukas).

35. Quervain: Grönlandeis, S. 80 f. Hervorhebungen im Originaltext.
36. Quervain: Grönlandeis, S. 95 f.
37. Quervain: Grönlandeis, S. 103.
38. Quervain: Grönlandeis, S. 123.
39. Quervain: Grönlandeis, S. 133.
40. Quervain: Grönlandeis, S. 130 f.

Literatur 
Andenmatten, Alice: Hans Hössly (1883-1918). Ein vielseitiger Forscher und Arzt, Diss. med. Universität Zürich, Zürich 1990.

Balsiger, Hans/Flückiger, Erwin O.: 75 Jahre Hochalpine Forschungsstation Jungfraujoch, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern, 64, 2007. S. 81-99. Volltext.

Billwiller, Robert: Professor Dr. Alfred de Quervain (1879-1927), in: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, 108, 1927. S. 32-41. Volltext.

Gautier, Raoul: Alfred de Quervain, in: Le Globe, 67, 1927. S. 28-36.

Higgins, Anthony K.: Exploration history and place names of northern East Greenland, Copenhagen 2010.

Höhler, Sabine: Luftfahrtforschung und Luftfahrtmythos. Wissenschaftliche Ballonfahrt in Deutschland, Frankfurt am Main 2001.

Jost, Wilhelm: Augusttage an der Westküste der Discoinsel, in: Akademischer Alpenclub Bern, 13, 1917/1918, S. 33-48.

Koch, Johan Peter: Durch die weisse Wüste. Die dänische Forschungsreise quer durch Grönland 1912-1913, deutsche Ausgabe besorgt von Alfred Wegener, Berlin 1919.

Köppchen, Ulrike/Hartwig, Martin/Nagel, Katja: Grönland. Welver 2005.

Lacki, Jan: Albert Gockel. From atmospheric electricity to cosmic radiation, in History of physics, 5 2012, Volltext.

Mercanton, Paul-Louis: Alfred de Quervain. In memoriam, in: Les variations périodiques des glaciers des alpes suisses. Rapports annuels, rédigé par Paul-Louis Mercanton, 47, 1926), S. 167-169.

Muralt, Alexander von (Hg.): Zwanzig Jahre Hochalpine Forschungsstation Jungfraujoch, Bern 1951.

Nansen, Fridtjof: The first crossing of Greenland, London 1919.

Quervain, Alfred de: Auf Schneeschuhen in Nordgrönland, in: Quervain, Alfred de/Stolberg, August und: Fjord-, Berg- und Schneeschuhfahrten in Grönland, in: Zeitschrift des deutschen und österreichischen Alpenvereins, 42, 1911, S

- : Beiträge zur Methode der Beobachtung der Gletscherbewegung, in: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, 102, 1921, S. 109-110. Volltext.

- : Plan de l’expédition suisse au Groenland (1912-1913) et spécialement de la traversé ouest-est du Groenland moyen (été 1912), in: Le Globe. 51, 1912, S. 65-71.

- : Quer durchs Grönlandeis. Die schweizerische Grönland-Expedition 1912/13, mit Beiträgen von P. L. Mercanton und A. Stolberg. München 1914.

- : Quer durchs Grönlandeis, herausgegeben und eingeleitet von Peter Haffner, mit einem Nachwort von Marcel de Quervain. Zürich 1998.

- : Ein Spezialtheodolit für Zwecke der wissenschaftlichen Luftfahrt, in: Zeitschrift für Instrumentenkunde. 25, 1905. S. 135-137.

- : Über Wirkungen eines vorstossenden Gletschers. Beobachtungen am obern Grindelwaldgletscher, Herbst 1919, in: Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft Zürich, 64, 1919, S. 334-349. 

- /Mercanton, P. L. (Hg.): Ergebnisse der schweizerischen Grönlandexpedition, Basel 1920.

 - /Piccard, Auguste: Beschreibung des 21 Tonnen Universal-Seismographen System de Quervain-Piccard, in: Jahresbericht 1924 des Erdbebendienstes der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt, Nr. 5, in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Zentral-Anstalt 1924. Der schweizerischen meteorologischen Beobachtungen 61, 1925.

- /Stolberg, August: Durch Grönlands Eiswüste. Reise der Deutsch-Schweizerischen Grönlandexpedition 1909 auf das Inlandeis, Strassburg 1911 (2. Auflage).

Quervain, Marcel de: Alfred de Quervain, pionnier de la recherche arctique suisse au Groenland (1879-1927), in: Inter Nord, Nr. 19, 1990, S. 223-228.

Rüdiger, Hermann: Deutschlands Anteil an der Lösung der polaren Probleme. Ein Beitrag zur Geschichte der Polarforschung, Erlangen 1912.

Völkle, Hansruedi: Albert Gockel und die kosmische Strahlung, in: Schweizerische Physikalische Gesellschaft, Physik Anekdoten, 2009. Volltext.

Rita de Quervain (Davos Dorf) stellte mir liebenswürdigerweise einen handschriftlichen Entwurf eines Vortrags von Elisabeth de Quervain(-Nil) zur Verfügung, den sie mutmasslich 1942 verfasste.

Abbildungen 
1. Familienumzug in einem Umiak. Musée d’éthnographie Neuchâtel (MEN).

2. Der lichtstarke und 25-fach vergrössernde Theodolit aus dem Jahr 1905. Während der Verfolgung eines Ballons blieb das Okular immer in derselben bequemen Höhe. Die Skala des Höhenkreises konnte vom Beobachter selbst abgelesen werden, während ein zweiter die Zeit nahm und das Azimut ablas. Beim ersten Versuch konnte damit ein „Ballon-Tandem“ bis auf eine Höhe von 16'000 Metern und auf eine Entfernung von 40 Kilometern verfolgt werden. Quervain: Spezialtheodolit, S. 136.

3. Rohbau des „Universal“-Seismographen in Degenried mit ca. 6,5 Metern Höhe, Baujahr 1922. Die lateinische Inschrift lautet übersetzt: „Und sie werden Schwerter zu Pflugscharen schmieden.“ Quervain/Piccard: Beschreibung, S. 15.

4. Die provisorisch errichtete meteorologische Station von 1925. Balsiger und Flückiger: Forschungsstation, S. 86.

5. Die Reise- und Überquerungsrouten Fridtjof Nansens im Jahr 1888 und der beiden Expeditionen Alfred de Quervains der Jahre 1909 und 1912. Quervain: Grönlandeis.

6. Der Nansen-Schlitten ist leicht, schmal und flexibel gebaut und weist einen tiefen Schwerpunkt auf. Nansen: Greenland, S. 24.

7. Der Nansen-Kocher besteht aus dem Brenner (unten) und zwei Kochbehältern (mitte und oben). Durch den unteren Kochbehälter, in dem Suppe etc. gekocht werden kann, verläuft mittig ein Kamin, der die Wärme zum oberen Gefäss leitet. Darin kann Schnee oder Eis geschmolzen werden. De Quervain modifizierte den Kocher allerdings, weil er ein schlechtes Verhältnis von Gewicht zum Energiewert hatte. Er setzte den viel leistungsfähigeren Petrol-Vergaser des Herstellers „Primus“ ein. Nansen: Greenland, S. 37.

8. Die Überquerungsgruppe mit Roderich Fick, Karl Gaule, dem 33jährigen Alfred de Quervain und Hans Hössli. Die Aufnahme entstand vermutlich vor der Überquerung. Quervain, Marcel de: Alfred de Quervain, S. 225.

9. „Mitternachtshalt auf dem Inlandeis“ zwischen Zeltplatz Nr. 4 und Nr. 5. Baebler vor einer Gletscherspalte, Stolberg beim Schlitten (1909). Quervain: Eiswüste, Tafel 1.

10. „Rast auf dem Inlandeis.“ Zeitgenössische Darstellung eines unbekannten Künstlers. Schweizer Forschungsreisen, Bern 1924, Tafel 1.

11. Siedepunktsapparat zur Ermittlung des Luftdrucks: Das im Boden und im Deckel mit Zu- und Abluftlöchern versehene Kochgefäss (K) trägt unten die Spirituslampe (L) und darüber den Siedekessel (S) mit der Dampfröhre (R), die von einem Mantel (M) umgeben ist. In der Dampfröhre hängt ein 18 Zentimeter langes Thermometer für den Bereich von 450 bis 820 mm (T), das durch einen Gummiring (G) gehalten wird. (B) Doppelbehälter für Wasser und Spiritus. Massstab ungefähr 1:6. Lueger: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, 2. Aufl., Stuttgart 1910, S. 107.

12. Höhenprofil des Inlandeises. Quervain: Grönlandeis, S. 136.

13. Itinerar der Ostseite des Inlandeises im Massstab 1:1'000'000. Äquidistanz 10 Meter, Randgebiete 50 und 100 m (verkleinerte Abbildung). Quervain/Mercanton: Grönlandexpedition, Tafel 1.

14. Zeltplatz Nr. 21 auf 2'510 Metern über Meer, der nach zwei Dritteln der Strecke erreicht wurde. Er erhielt den Namen „Abwärts“. Hans Hössli, Roderich Fick, Karl Gaule und Alfred de Quervain am 13. Juli 1912. Musée d’éthnographie Neuchâtel (MEN).

15. Alfred de Quervain nach der Überquerung in Kammikern, den fellgefütterten Stiefeln der Inuit, in der Umgebung von Ammassalik. Mercanton: Alfred de Quervain, Tafel 1.

16. Elisabeth de Quervain vor dem Zelt der Familie Guithi. mit der sich die Schweizer angefreundet hatten. Musée d’éthnographie Neuchâtel (MEN).

Noch zwei technikgeschichtliche Hinweise: Die Abbildungen 1, 14 und 16 wurden von Alfred de Quervain schwarz-weiss fotografiert. Später wurden sie für Vortragszwecke nach Angaben de Quervains von Wilhelm Heller von Hand koloriert. Die Farbgebung von Abbildung 15 ist nicht einer Laune des Autors entsprungen. Es handelt sich um die vorlagengetreue Wiedergabe einer Fotografie, die im Tiefdruckverfahren hergestellt wurde. Die aufwändige Technik war wegen ihres Tonwertumfangs und der Detailtreue das Nonplusultra jener Zeit. Um diese Abbildungen „wirklichkeitsnäher“ wirken zu lassen, wurden sie bunt gedruckt.

Überarbeitete Fassung einer 2013 veröffentlichten Druckschrift. 

GND: 116318147