Freitag, 22. Dezember 2017

Arktis und Antarktis in Schweizer Schul- und Kinderzimmern (Teil 2)

Die 1980er-Jahre waren geprägt von einer Atmosphäre schier ausweglos scheinenden Unheils: Wälder sollten bald nur noch aus Baumskeletten bestehen und über kurz oder lang würden mobile Nuklearsprengköpfe Europa in eine Flammenhölle (NATO-Doppelbeschluss) verwandeln. Sollte aber das eine oder andere nicht eintreten, so würde der schnelle Brüter Superphénix im französischen Rhonetal dessen Rohbau 1982 von militanten Kernkraftgegnern mit einem tragbaren Raketenwerfer beschossen wurde den Kontinent in eine plutoniumverseuchte Geisterwelt verwandeln. Die Kernschmelze von Block 4 des Kernkraftswerks Tschernobyl führte 1986 dazu, dass der Reaktor explodierte und Nord- und Mitteleuropa radioaktiv verseucht wurden.

Benötigte man heute eine Illustration, die die damals herrschende Stimmung zum Ausdruck bringt, so lässt sich in den Beständen des Schweizerischen Schulwandbilderwerks (SSW) fündig werden. Das plakatgrosse Schulwandbild Die Arktis, welches 1988 produziert wurde, stellt den von Europa weit entfernten Erdteil als komplett von Menschenhand verschandelt dar. Der raffinierte Aufbau des Bildes lenkt den Blick des Betrachters auf die einzigen Wesen, die darauf zu erkennen sind: ein Hundegespann mit einem Fahrer, die wirken, als ob sie sich auf desparater Flucht befinden.

"Die Arktis". Das 219. Bild des Schweizerischen Schulwandbilderwerks (SSW), Originalgrösse 59 x 83 cm

























Erstmals auf sich aufmerksam machte der Gestalter dieses Bildes, Jörg Müller (*1942), mit der 1973 erschienen Bildmappe Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder oder Die Veränderung einer Landschaft; sie brachte ihm den Deutschen Jugendbuchpreis ein.

In der Einleitung zum Lehrerkommentar, der zu jedem Schulwandbild produziert wurde, schrieb Müller beschwörend: Da ist der grossartige Traum von der grossen unberührten Wildnis. Da ist aber auch der Alptraum von diesen kaum bewohnten Regionen, die von uns rücksichtslos ausgebeutet werden und dabei doch ein so empfindliches ökologisches Gleichgewicht haben. Wäre nicht wenigstens dort noch sehr viel zu retten? Können wir hoffen? Was können wir tun? – Dort und bei uns!

Sieben Jahre nach der Publikation dieses Bilds existierte das 1935 gegründete Schulwandbilderwerk allerdings nicht mehr. Begründet wurde dies mit dem Einzug der audiovisuellen Technik in den Unterricht.

Künstler und Illustratoren hatten ab den 1970er-Jahren allerdings auch ein neues Selbstverständnis gewonnen Sie wollten sich nicht mehr von Vertretern der Kommission für interkantonale Schulfragen des Schweizerischen Lehrervereins (abgekürzt Kofisch) in die Ausführung ihrer Werke dreinreden lassen. Welcher Auffassung man davor beim Schweizerischen Schulwandbilderwerk von der Aufgabe des Künstlers hatte, lässt sich in einem anonym 1951 erschienen Aufsatz in der Schweizerischen Lehrerzeitung nachlesen: Dies aber ist der Kerngedanke des SSW: Der Pädagoge gibt den Auftrag und kontrolliert die Ausführung.

Von Staatskunst für Schweizer Schulzimmer kann in diesem Zusammenhang deshalb gesprochen werden, weil die Künstler der insgesammt 252 Schulwandbilder, die zwischen 1935 bis 1995 erschienen sind, vom Eidgenössischen Departement des Innern honoriert wurden. Diese Mittel wurden damals aus einem vom Bundesrat geschaffenen Krisenfonds bereitgestellt, mit dem die auch unter Künstlern und Illustratoren grassierende Erwerbslosigkeit bekämpft werden sollte; auch sollte etwas gegen den Import von Schulmaterial aus dem Deutschen Reich unternommen werden. Die Funktionäre der Kofisch begleiteten das Unternehmen mit ihrem pädagogischem Rat und die Ernst Ingold AG in Herzogenbuchsee, die Schulmaterial verkaufte, vertrieb die Bilder mittels Abonnements an die Schulgemeinden; im besten Jahr setzte die Firma 12'000 Stück davon ab.

Ein wesentlich heitereres Bild des SSW gelangte 15 Jahre früher in die Schulstuben; geschaffen wurde es vom Westschweizer Maler und Bühnenbildner Adrien Holy (1898-1978).

"Fram". 158. Bild des Schweizerischen Schulwandbilderwerks (SSW), Originalgrösse 59 x 83 cm

























Beim Anblick der vermummten Gestalten mag sich beim einen oder anderen Schüler wohl die Assoziation an die Filmsequenzen mit den ulkigen Hopsern Neil Armstrongs und Harrison Jack Schmitts eingestellt haben, die die beiden ersten Astronauten der Apollo-Missionen auf dem Mond vollführten, und die er vielleicht am Fernseher mitverfolgt hatte. Im Lehrer- Kommentars zu diesem Bild steht denn auch: Fram, für viele ein nichtssagendes Wort, für andere jedoch der Inbegriff eines Expeditionsschiffes, das wie heute die Raumschiffe, einzigartigem menschlichem Unternehmungsgeist entsprungen ist. - Die Expedition der Fram sozusagen als Low-Tec-Version davon.

Der Autor des 20seitigen Kommentars dieses Schulwandbilds, ein Dr. H. Vögeli, der vermutlich als Gymnasiallehrer tätig war, hielt im Vorwort fest, dass er sich jedes Jahr in den Sommermonaten in Island, Grönland oder Spitzbergen aufhalte. An die Adressaten, die Lehrerschaft, gerichtet, sollte dies wohl seine Kompetenz auf diesem Gebiet unterstreichen; Dritten wäre dabei wohl auch das träfe Wort vom Ferientechniker eingefallen.

Für den Unterricht benötigten Lehrer (heute "Lehrpersonen" genannt) sogenanntes didaktisches Hilfs- bzw. Anschauungsmaterial: Ab etwa 1910 begannen spezialisierte Verlage Diaserien für den Einsatz im Unterricht zu produzieren; 1913 existierten europaweit etwa 30 Firmen, die Lichtbilder produzierten. Diapositive dürften etwa bis zur Jahrtausendwende im Unterricht verwendet worden sein.

Im Essay Epiphanie für jedermann schreibt die Publizistin Hannelore Schlaffer: Die ästhetische Theorie schätzt seit je das Auge, das nun allein die Regentschaft übernimmt, als das oberste, intellektuelle Sinnesorgan. [...] Faszination ist eine Glückerfahrung, in der die alltägliche Wirklichkeit über dem Erlebnis einer überdimensionalen Erscheinung in nichts zerrinnt: Der Geist leuchtet in der Finsternis, in die die Wirklichkeit versinkt.

Konnten für ein Schulwandbild noch ein oder zwei Schüler vom Lehrer abdelegiert werden, um es nach der entsprechenden Nummer in der Asservatenkammer der Lehrerschaft herauszusuchen, um es dann im Schulzimmer an der eigens dafür angebrachten Einrichtung an Schnüren zur Decke hochzuziehen, so erforderten Lichtbilder wesentlich aufwändigere Vorbereitungen. Bis das Schulzimmer verdunkelt war und ein Bild an der Wand erstrahlte, musste zuerst ein Stativ aufgebaut und ein schwerer Bildwerfer, der Projektor, darauf gehievt und an der Steckdose angeschlossen, ein Ständer an der Wand platziert und eine Leinwand daran aufgehängt und entrollt werden.

Während die ersten Schüler im Halbdunkel bereits einzudämmern begannen, schob der Lehrer nun Bild um Bild in den Lichtstrahl, begleitet von seinen mehr oder weniger lebhaften Kommentaren. Schlagartig wach dürften allerdings die Schüler geworden sein, wenn sie ihr eigenes Spiegelbild zu sehen bekamen: Kinder in einer Schulstube im hohen Norden. Beim einen oder anderen Schüler führte dies wohl auch zur jähen Erkenntnis, dass selbst dort Kinder ihrem Schicksal nicht entgingen.

Volksschulklasse in Longyearbyen (Spitzbergergen). Kleinbild-Diapositiv aus einer 1972 erschienenen Serie.























Kleinbild-Diapositiv aus einer 1966 erschienen Serie Wirtschaft und Siedlung in Grönland.























Eine bemerkenswerte Publikation erschien erstmals im Jahr 1929; bis in die 1950er-Jahre wurden weitere Auflagen davon produziert. Sein Verfasser bzw. der Illustrator, der sächsische Schulmeister Arno Gürtler hielt in der Vorbemerkung des dritten Hefts von Zeichnen im erdkundlichen Unterricht. Fremde Erdteile unter Punkt 8 apodiktisch fest:

Es kommen Fälle vor, wo dem Schüler die Übertragung der wörtlichen Darstellung des Lehrers in die eigene Vorstellung grosse Schwierigkeiten bereitet. Da ist die Zeichenskizze zu Hilfe zu nehmen. Von dieser aber auszugehen, ist falsch. Immer erst das Leben und die Sache, dann das Zeichen und das Zeichnen.

Zu Teil 1 von Arktis und Antarktis in Schweizer Schul- und Kinderzimmern


Kaiserpinguine auf der Wanderung, Diapositiv, ca. 1920.
Literatur
Brücker, Chr.: Der Lichtbilderapparat in der Volks- und Mittelschule. Strassburg 1913.

Gamper, Barbara: Arktis. Zürich: Schweizerischer Lehrerverein 1988. (Kommentare zum Schweizerischen Schulwandbilderwerk, 53 Bildfolge 1988, Bild 219).

Gürtler, Arno: Zeichnen im erdkundlichen Unterricht. Drittes Heft: Fremde Erdteile. Leipzig 1937.

Bundesamt für Kultur (Hg.): Kunst zwischen Stuhl und Bank. Das Schweizerische Schulwandbilder Werk 1935-1995. Baden 1996.

Schlaffer, Hannelore: Epiphanie für jedermann. Das Lichtvon hinten ist Licht von innen - warum uns Computerbildschirme süchtig machen, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.2.2014, Nr. 38, S. 63.

Vögeli, H.: Die Fram. Zürich: Schweizerischer Lehrerverein 1973. (Kommentare zum Schweizerischen Schulwandbilderwerk, 38. Bildfolge 1973, Bild 158).

Freitag, 1. Dezember 2017

Erstes Netzwerk-Treffen Arktis-Sammlungen Schweiz (10./11. November 2017 in St. Gallen)

Am 10./11. November 2017 fand das Treffen des neu initiierten «Netzwerkes Arktis Sammlungen Schweiz NASS» im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen HVM statt. An der Veranstaltung nahmen rund 20 Personen teil, die sich beruflich oder privat mit Objekten bzw. Dokumentationen aus dem arktischen Raum beschäftigen.

Im ersten Teil stellte das HVM seine Arktissammlung und deren Provenienz in zwei Vorträgen von Achim Schäfer, Sammlungsleiter HVM (Otto Nordenskjöld) bzw. Peter Müller, Provenienzforschung HVM (Trautmann Grob) vor. Anschliessend führte Jolanda Schärli durch die seit 2015 neu eröffnete Nordamerika-Ausstellung. Den Grossteil der Inuit-Objekte hat das HVM 1909 von Otto Nordenskjöld angekauft, einem schwedischen Geologen und Polarforscher.

Am Nachmittag referierte der Restaurator Ulli Freyer in einem äusserst spannenden und erkenntnisreichen Vortrag über die Materialien Horn, Schildpatt und Walbarte. Er liess die Teilnehmenden die verschiedenen Materialien auch haptisch erleben.

Die Kuratorin Martha Cerny stellte die Cerny Inuit Collection vor, eine der weltweit umfassendsten Sammlungen zeitgenössischer Kunst aus dem hohen Norden von beiden Seiten der Beringstrasse. Ein Schwerpunkt des Vortrags war die Verarbeitung des Klimawandels in der arktischen Kunst.

Das Nordamerika Native Museum NONAM in Zürich hat in den letzten Jahren schon mehrere Ausstellungen zum Thema Arktis realisiert. Florian Gredig stellte die Sammlungen vor, darunter auch die Arktis-Datenbank und -Bibliothek von Hubert Wenger und Beatrice Wenger-Peek (Genf).

Sabine Bolliger, Leiterin der Archäologischen Sammlung des Bernischen Historischen Museums BHM, gab Einblick in die Sammlung und Dokumentationen zu den Ausgrabungen des Archäologen Hans Georg Bandi, der in den 1970er Jahren mehrmals in Alaska Ausgrabungen leitete. Sie ist daran, die Sammlung Bandi umfassend zu dokumentieren.

Am Samstagvormittag trafen sich 12 Teilnehmende zum Brunch im Hotel Dom, um im kleinen Kreis zu diskutieren und sich zu vernetzen. Zum Abschluss gab das HVM mit einer Führung des Sammlungsleiters Achim Schäfer einen Einblick hinter die Kulissen. Ausgewählte Objekte, die sonst im Depot schlummern, konnten aus der Nähe studiert werden.

Das Treffen erwies sich als eine sehr gelungene Veranstaltung: Es wurden neue Kontakte geknüpft und Erkenntnisse weitergegeben. Sämtliche Teilnehmenden wünschten eine Fortsetzung der Veranstaltung. Die Kerngruppe (HVM, BHM, Cerny Inuit Collection, NONAM) trifft sich Anfang 2018 in Bern, um eine Veranstaltung im ähnlichen Rahmen für Ende 2018 zu besprechen. (Quelle: Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen)

Hauptfassade Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen (Quelle: Wikipedia)