Roderich Fick war Teilnehmer der zweiten Überquerung des Inlandeises. Der Sohn eines Augenarztes aus Deutschland wächst in Zürich auf. 1908 erfährt er von den Plänen einer Expedition Alfred de Quervains. Dieser lehnt die Bewerbung Ficks ab. Der eher ziellose, künstlerisch begabte Architekturstudent setzt darauf alle Hebel in Bewegung, um trotzdem an einer Expedition teilnehmen zu können. Vergeblich bewirbt er sich auch bei Wilhelm Filchner in Berlin für eine Antarktis-Reise. Eine geplante Expedition zum Nordpol von Ferdinand Graf von Zeppelin kommt auch nicht zustande. Roderich Fick reist darauf für ein Semester nach Dresden. Er besucht dort Seminare über Astronomie, Meteorologie und Vermessungskunde. Zusammen mit Freund Karl Gaule bewirbt er sich erneut bei Alfred de Quervain. Und werden angenommen.
Vor ungefähr zwei Jahren fiepst das Telefon: Der Enkel von Fick und Redaktor beim Spiegel hat erfahren, dass ich über de Quervain arbeite. Er besitze das Expeditions-Tagebuch seines Grossvaters. Das könne eine interessante Quelle sein, eine Ergänzung zum bereits bekannten Material, antworte ich. Er wolle das Tagebuch veröffentlichen und werde sich melden, wenn er mal in Zürich sei - Eine Geschichte aus zwei Perspektiven dargestellt; mit einer gewissen Spannung hat man auf die Publikation gewartet.
Jetzt liegt das 270seitige Buch Stephan Orths vor. Was hat es mit dem Eisberg des Opas auf sich, fragt sich der Leser beim Titel. Wie geht "Ahnenforschung im Eis"? - so wirbt der Verlag für das Buch. Im Gepäck das Tagebuch des späteren "Leibarchitekten" Hitlers, reist die Familie Orth im Sommer 2011 an die ostgrönländische Küste. Schon über die Reisevorbereitungen erfährt man viel. Der Ficks-Bjerg wird bestiegen. Im Sermilik-Fjord, da sind auch der Gaule- und der Hössli-Bjerg auf Karten zu finden, benannt nach den Namen der beiden anderen Begleiter de Quervains.
Im Jahr darauf bricht Orth mit drei Kameraden unter Leitung Wilfried Korths erneut zur Ostküste auf. Im August soll auf der umgekehrten Route das Eis überquert werden. Der Adept hat sich vorher in Tschechien und auf der Hardangervidda auf das Leben unter borealen Verhältnissen vorbereitet. Auch darüber erfährt man recht viel Persönliches. Das Abenteuer in Grönland endet nach ein paar Tagen: Zwei der Pulkas weisen vom Durchhieven durch die vielen Schmelzwassergräben Schäden auf. Alles, selbst das Laptop, sind in doppelter Ausführung mitgenommen worden. Pulkas nicht. Demokratisch wird die Entscheidung getroffen, die Expedition an die Westküste abzublasen. Wenigstens die Abstiegsroute von de Quervain und seiner Crew soll jetzt noch nachvollzogen werden.
Zeltplatz Nr. 29 wird erreicht. Dort, am Rand des Inlandeises, errichtete die Crew um Alfred de Quervain am 21. Juli 1912 das letzte "offizielle" Lager. Der Geodät Wilfried Korth muss nach 100 Jahren mit dem GPS feststellen, dass das Niveau des Platzes 70 Meter tiefer liegt. Korth hat das Inlandeis auf der historischen Route schon zweimal aus eigener Kraft überschritten; um die Ablation auf den Grundlagen von 1912 zu messen.
Die Rückseite des Schutzumschlags verspricht das "Expeditionstagebuch". Doch im Buch ist es nicht integral abgedruckt. Nur den Anfang der Aufzeichnungen hat Roderich Fick in Grönland selbst verfasst, erfährt der Leser in der zweiten Hälfte des Buches. Die weiteren Einträge wurden nach der Rückkehr im Herbst 1913 und später, während seines Kolonialdienstes in Afrika, geschrieben. Im Buch sind einige ausdrucksstarke Bleistiftzeichnungen Ficks abgedruckt.
Dass Alfred de Quervain autokratische Züge hatte, davon berichtete er selbst. Von den beiden Jüngeren, Gaule und Fick, sollen de Quervain und Hössli offenbar als von "die junge Lüt" gesprochen haben! In einem Brief vom Dezember 1912 bringt Gaule gegenüber Freund Fick Enttäuschung und Polemik über "Q." zum Ausdruck. Das ist in die Kategorie des "Expeditions-Katers" einzuordnen - Ein Phänomen, mit dem schon viele Expeditionsteilnehmer Bekanntschaft machten.
Die ausführlichen biographischen Angaben zu Karl Granville Gaule sind dem Rezensenten neu. Während des Krieges wurde er zur Königlich Preussischen Flugzeugmeisterei berufen. "Flugzeugmeisterei"! Später war er als Privatdozent für Flugzeugbau an der Technischen Hochschule in Danzig tätig. Wie Hans Hössli auch, starb Gaule relativ jung, im Jahr 1922.
Wie ein "unentschlossener Schnurrbart" aussieht, oder, welches Idiom eigentlich mit "Schwyzerdütsch" gemeint ist, oder, dass ein enthusiastischer junger Mann über den Namen "Fick" ins Ventilieren gerät, das sind Details, die man dem Autor nachsehen mag. Man fragt sich nur, ob der Malik-Verlag - mit seiner stolzen Vergangenheit - noch ein Lektorat hat: Es würde solche Mängel beheben und das Buch nicht so geschwätzig und anrührend werden lassen.
Verlagsseite http://www.piper.de/buecher/opas-eisberg-isbn-978-3-89029-432-2
Künstler, Alpinisten und Wissenschafter des Binnenlandes Schweiz leisteten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zahllose Beiträge zur Polarforschung. Hier wird ein kaum bekanntes Kapitel aus der Wissenschafts- und Kulturgeschichte aufgeschlagen.
Sonntag, 28. April 2013
Opas Eisberg, von Stephan Orths. Ein neues Ego-Dokument zur schweizerischen Grönland-Expedition 1912/13, Rezension von Stefan Kern
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