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Dienstag, 28. Juli 2015

Bundes- oder Nationalfeiertag (1. August) 1954 an der "arktischen Riviera"


Improvisation war im Sommer 1954 in Nathorst Land im innersten Scoresby Sund von Nordost-Grönland gefragt, um den Bundes- oder Nationalfeiertag der Schweiz stilgerecht mit einem Feuer zu begehen.

Eduard Wenk (1907-2001), der Leiter der Expeditionsgruppe und Professor für Mineralogie und Petrografie an der Universität Basel, sowie seine beiden Assistenten, Rechtsanwalt Oliver Wackernagel und Internist Hans-Peter "Hape" Buess (1920-1997), behalfen sich mit einer Hose aus dem berüchtigten Manchester-Stoff, Heidekraut und Zeltstange.


Die auf Kodachrome aufgenommene Aufnahme stammt von Hans-Peter Buess. Er war während der Sommer 1951, 1953 und 1954 im Rahmen der Lauge-Koch-Expeditionen in Nordost-Grönland tätig. („Persönliche Aufgabe: Mädchen für alles, wie jeder andere auch. Proviantnachschub, Vorverlegung, Rekognoszierung. Koch. Arzt!“ Aus Notizen zu einem Vortrag im Bernoullianum in Basel.) Sein umfangreicher photografischer und schriftlicher Nachlass liegt im Polararchiv Schweiz.

"Arktische Riviera" bezieht sich auf den Titel einer im Jahr 1957 im Berner Verlag Kümmerly & Frey erschienenen Monographie von Ernst Hofer (1902-1987). Der von 1925 bis 1967 bei der Eidgenössischen Landestopographie in Wabern tätige Spezialist für terrestrische Photogrammmetrie hielt sich auf Einladung der Lauge-Koch-Expeditionen während den Sommern 1949, 1950, 1951 und 1954 ebenfalls in Nordost-Grönland auf. Seine aus eigener Initiative entstandenen s-/w und farbigen Aufnahmen wurden 1957 auch in einer französisch- und in einer englischsprachigen Ausgabe veröffentlicht, 1960 auch in einer Italienischen.

Donnerstag, 19. März 2015

„4 Mann im Zelt à la Sardine.“ Eine Expedition des Schweizer Geologen Adolf Ernst Mittelholzer im März und April 1939 in Nordost-Grönland, von Stefan Kern

Europa war schon tief in der Krise, als im Frühsommer 1938 einige Schweizer Geologen über Dänemark und Island zu einer Reise nach Nordost-Grönland aufbrachen. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 hatte die Tschechoslowakei im Mai einen Teil seiner Armee mobilisiert. Schon im Dezember des Vorjahres hatte Hitler Weisungen an die Wehrmacht erlassen, die Eroberung der Tschechoslowakei planerisch vorzubereiten und im Mai 1939 stand für ihn der Entschluss zur Eroberung der Tschechoslowakei fest.

Der promovierte Geologe Adolf Ernst Mittelholzer und der kaufmännische Angestellte Ernst Bachmann waren Mitglieder dieser Reisegruppe. Als die beiden Forscher nach mehr als einem Jahr in Nordost-Grönland mit dem Zug von Kopenhagen in die Schweiz heimfuhren, hatte sich die Krise politisch und militärisch weiter zugespitzt. Unmittelbar nach seiner Rückkehr wurde Adolf Ernst Mittelholzer zum Aktivdienst einberufen. 1941 erschienen in Dänemark – das neutrale Land war im April 1940 von den Nazis okkupiert worden – die wissenschaftlichen Ergebnisse Mittelholzers dieser Expedition in der seit 1879 erscheinenden Reihe „Meddelelser om Grønland“.

Lebenslauf
Geboren wurde Adolf Ernst Mittelholzer am 10.11.1906 in St. Gallen. Nach dem Besuch der dortigen Schulen studierte er von 1926 bis 1933 Geologie, Mineralogie und Petrographie und im Nebenfach Zoologie und Botanik an der ETH. Von 1933 bis 1937 war er als Hilfslehrer für Chemie und Physik am Städtischen Gymnasium in Bern tätig. Mit einem „Beitrag zur Kenntnis der Metamorphose in der Tessiner Wurzelzone mit besonderer Berücksichtigung des Castionezuges“ promovierte er 1936 beim Mineralogen und Petrographen Paul Niggli (HLS) an der ETH. Kurz nachdem er eine Stelle als Bezirkslehrer in Rothrist angetreten hatte – seit 1933 war er mit Margarethe Windrath verheiratet, mit der er zwei Kinder hatte –, nahm er eine Einladung zu einer Expedition nach Nordost-Grönland unter Leitung des dänischen Geologen Lauge Koch (1892-1964; Wikipedia) an. Sie dauerte vom Juni 1938 bis September 1939.

1. Die Goodthaab im Treibeis vor Nordost-Grönland im Jahr 1938.
Nach seiner Rückkehr wurde Mittelholzer zum Aktivdienst einberufen, wo er zum Meteorologen ausgebildet wurde. Von 1946 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1972 unterrichtete er Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer an der Bezirksschule im aargauischen Kulm. Adolf Ernst Mittelholzer verstarb am 21.5.1984.

Die Reise im März und April 1939
„Letzter Sonnenblick“ notierte Mittelholzer am 8. November 1938 in sein Feldbuch – erst um den 2. Februar sollte die Sonne wieder zu sehen sein. Seit Ende August 1938 lebten er und sein Assistent Peter Bachmann, von ihm sind bisher keine weiteren biographischen Details bekannt, auf der Station Eskimonæs (74° 05.7´ N 21° 16.8´ W) an der Südküste von Clavering Ø (73° 17.0‘ N 21° 08.0‘ W; Wikipedia). Die Insel wurde von der Expedition Karl Kolldeweys 1869/70 nach Douglas Charles Clavering benannt, der die Küstengewässer Ostgrönlands im Jahr 1823 befahren hatte.

2. Funkstation der Station Eskimonæs.
Die an der Südküste der Insel gelegene Station Eskimonæs mit vier Gebäuden war 1931 von der Expedition Lauge Kochs errichtet worden. Ausgerüstet mit einer Funkstation, diente die Station von 1941 bis 1943 der Nordøstgrønlands Slædepatrulje (Wikipedia) als Hauptquartier. Während des Zweiten Weltkriegs, im März 1943, wurde das Hauptgebäude vom deutschen Marinewetterdienst zerstört und das Gelände im Mai des gleichen Jahres von der US Air Force bombardiert. Im Winter 1938/39 wurde die Station vom Dänen Ib Poulsen geleitet, der wie sein Landsmann Niels Ove Jensen, das Funkgerät bedienen konnte. Die beiden Grönländer Jakob Senimoinaq und Christian Arke arbeiteten auf Eskimonæs als Schlittenführer.

Stationsleiter Poulsen schloss sich im Jahr 1942 der Nordøstgrønlands Slædepatrulje an und wurde 1948/49 Leiter der Danmarkshavn Weather Station. Jensen wurde 1941 vom US-amerikanischen Commander Edward Hanson Smith zu einem der Kommandanten der Nordøstgrønlands Slædepatrulje ernannt und 1942 nach West-Grönland evakuiert. Von 1943 bis 1944 leitete er die Station Dødemandsbugten und von 1944 bis 1945 die Station Daneborg.

3. Auf Hudson Land kamen Islandponys zum Einsatz.
Nach ihrer Ankunft in Nordost-Grönland im Sommer 1938 arbeiteten Mittelholzer und Bachmann in einer Gruppe unter Leitung des Schaffhauser Geologen Heinrich Bütler in Hudson Land (73° 53.0‘ N 23° 18.0‘ W). Von dort wurden sie im Herbst nach Eskimonæs geflogen.

Geologen aus der Schweiz waren ab 1932 an den Expeditionen Lauge Kochs beteiligt, und mehrere von ihnen kannten die Anforderungen an eine Überwinterung bereits aus eigener Erfahrung. So hatten von 1932 bis 1938 bereits sieben Schweizer Geologen in Nordost-Grönland überwintert. Da es der Godthaab im Sommer 1937 nicht gelungen war, den Treibeisgürtel vor der Küste zu durchqueren und deshalb nach Dänemark zurückkehren musste, mussten Wolf Maync, Hans Stauber und Andreas Vischer zweimal dort überwintern.

4. Eskimonæs mit Antenne, Zwinger und Fleischgestell 1938/39.
Neben Fachkenntnissen und einer intakten körperlichen und mentalen Verfassung war eine weitere Voraussetzung für eine Überwinterung, dass die Teilnehmer sich von beruflichen oder familiären Verpflichtungen frei machen konnten. Mittelholzer dankte in seinem 1941 in Kopenhagen publizierten Forschungsbericht denn auch der Erziehungsdirektion des Kantons Aargau und der Schulpflege der Gemeinde Rothrist für die Bewilligung für einen sechzehnmonatigen Urlaub vom Schuldienst.

Eine Überwinterung ermöglichte es, dass die Periode vom Frühjahr bis zum Aufbrechen des Meereises im Frühsommer für Schlittenreisen auf dem Meereis der Fjorde genutzt werden konnte. Da die Niederschläge in Nordost-Grönland gering ausfallen, im Winter also nur wenig Schnee liegt, ist das zu untersuchende Gelände relativ gut begeh- und untersuchbar (in Wasseräquivalent beträgt der Jahresniederschlag 15 bis 20 Zentimeter).

Für seinen Auftrag reiste reiste Mittelholzer mit Peter Bachmann von Mitte März bis Anfang August 1939  während ingesamt etwa 15 Wochen zu Fuss, mit Hundeschlitten und mit einem Boot. An Hand seiner Eintragungen und Fotografien vom Beginn der ersten, drei Wochen dauernden Expedition im März und April 1939, soll hier auf die Charakteristik einer solchen Unternehmung und auf die Arbeitsweise Mittelholzers näher eingegangen werden.

Die Eintragungen im Feldbuch vom 12. bis 16. März 1939 
„Abfahrt“ notierte Mittelholzer am 12. März in sein Feldbuch (Zeile 3). Die Angaben zur ersten Etappe datieren jedoch vom 14. März. Der scheinbare Widerspruch kann damit erklärt werden, dass zwar am 12. März gestartet wurde, die zurückgelegte Strecke vom Ausgangspunkt bis zum Kap Oetker aber erst am 14. März von Mittelholzer notiert wurde. Doch auch eine andere Erklärung ist denkbar: Da die Strecke nur etwa 30 Kilometer beträgt, ist es unwahrscheinlich, dass dafür drei Tage benötigt wurden. Möglicherweise war es während der ersten beiden Tage zu Verzögerungen bei der Abreise gekommen und die Gruppe war in Eskimonæs geblieben. Und dann war am 14. März die ganze Etappe zurückgelegt worden.

5. Feldbuch mit Eintragungen vom 12. bis 16. März 1939 (Transkription am Schluss des Beitrags).
Die Notiz „4 Mann im Zelt à la Sardine“ (Zeilen 5 und 6) ist wohl wörtlich zu verstehen: Dass die vier Männer wegen der engen Platzverhältnisse im Zelt wie Ölsardinen schlafen mussten, also Kopf gegen Füsse und wieder Kopf gegen Füsse. Das Depot (Zeile 14) war möglicherweise schon im Sommer 1938 vorbereitet worden, konnte aber auch von einer früheren Expedition stammen. Auf Zeile 14 ist Moskusschlachten notiert. Dies hing möglicherweise damit zusammen, dass am Ende des Winters nur noch wenig Futter für die Hunde auf der Station vorhanden war bzw. mitgenommen werden konnte; es bestand gewöhnlich aus Saiblingen, die sommers in den Fjorden gefangen wurden. Vielleicht sollte den Hunden auch einfach Frischfleisch verschafft werden, was auch den Zweibeinern zugute kam.

6. Mittelholzer im Frühsommer 1939.
Fotografien
Mittelholzer verwendete zwei Kameras: Eine Leica für Kleinbild-Film in Patronen und eine Rollei für Rollfilm (sogenanntes Mittelformat). Eine Leica ist leicht und kompakt, eine Rollei hingegen relativ schwer und sperrig. Aufnahmen mit der Rollei hatten den Vorteil, dass auf dem Rollfilm bedeutend mehr Informationen „gespeichert“ werden konnte, als auf dem dreieinhalb Mal kleineren Format eines Kleinbildfilms. Beide Kameras gehörten wegen ihrer mechanischen Zuverlässigkeit und ihrer optischen Qualität zum Besten, was damals erhältlich war. Ein Vergleich der Aufnahmen vom jeweiligen Kameratyp zeigt, dass Mittelholzer die Leica spontan einsetzte. Für Aufnahmen geologischer Funde oder vom Terrain – also für statische Aufnahmen – nutzte er hingegen die Rollei. Oft nahm er mit ihr auch ganze Gebirgszüge auf, deren Kontaktkopien später zu Panoramen zusammengesetzt wurden. Praktisch alle Aufnahmen in den Feldbüchern sind nummeriert. Nach dem Kameratyp steht die Zählung des Films (Zeile 1 in Abbildung 1 bzw. der Transkription), darauf die fortlaufende Nummerierung der Aufnahme, die mit Stichworten ergänzt wurde (Zeilen 1 bis 3). Oftmals notierte Mittelholzer auch Blendenöffnung und Verschlusszeit. Diese Werte ermöglichen die Ermittlung der optimalen Zeit bei der Filmentwicklung zur Steigerung oder Reduktion des Kontrasts. Aus diesen Werten lassen sich für Vergrösserungen auf Papier auch Rückschlüsse auf die optische Qualität des Negativs ziehen.

Eingangs zu den wissenschaftlichen Beobachtungen ist jeweils das Datum, gefolgt von der zurückgelegten Route sowie Angaben zu Witterung und Temperatur angegeben. In späteren Einträgen hielt er auch die Luftdruckwerte fest; sie konnten überlebenswichtige Hinweise auf die Entwicklung des Wetters geben. 

7. Kartenausschnitt mit Reiseroute, den Stationen und Hütten sowie die Arbeitsgebiete.




































Unter den weit über tausend Aufnahmen Mittelholzers finden sich nur drei Gruppenbilder. Zwei davon entstanden an Weihnachten und zeigen die festlich gekleidete Besatzung von Eskimonæs um einen geschmückten Tisch. Auf untenstehendem Bild sind der Leiter der Station und Telegraphist Ib Poulsen und die beiden grönländischen Schlittenführer Christian Arke und Jakob Senimoinaq abgebildet. Arke trägt eine Hose aus Eisbärenfell, während die beiden anderen europäische Kleidung tragen. Alle drei tragen Kamikker, die fellgefütterten Schneestiefel der Inuit.

8. Poulsen, Arke und Senimoinaq im März 1939.
Zu Beginn der Reise, und bis zum 15. März, wurden zwei Nansenschlitten verwendet (siehe unten Bild 218). Im Gegensatz zum breiten und schweren Schlitten der Grönländer, ist dieser Schlittentyp schmal und leicht gebaut. Der Schattenwurf auf Bild 219 zeigt, dass derjenige von Mittelholzer nicht beladen war. Das ermöglichte es ihm wohl, nach der idealen Fahrroute auf dem Meereis zu suchen oder nach Jagdbeute Ausschau zu halten. Mindestens zwei der Reisenden verwendeten Skis, wie auf den Aufnahmen 222 und 236 zu erkennen ist. Den Moschusochsen-Kälbern, die von einem losgebundenen Hund gestellt sind, näherte sich Mittelholzer bis auf eine Distanz von etwa 5 Metern (Bilder 228 bis 230).

9. Kleinbild-Aufnahmen, die mit einer Leica zwischen dem 12. bis zum 16. März 1939 aufgenommen wurden.








































Kontextualisierung
19jährig reiste Lauge Koch 1913 zum ersten Mal in die Arktis. Mit dem Vorsteher der Forschungsstation auf der westgrönländischen Insel Disko, Morten Porsild, und dem Schweizer Glaziologen Wilhelm Jost unternahm er dort zwei ausgedehnte Reisen (vgl. "Jost auf Disko", Teil 1 und 2 PACH). Nach einem Geologiestudium und entbehrungsreichen Lehrjahren leitete er während mehr als drei Dekaden ein höchst aufwendiges Forschungsprogramm. Dessen primäres Ziel war die geologische Untersuchung und Kartierung eines Gebietes, das sich vom Scoresby Sund auf dem 70. bis zum 83. Nördlichen Breitengrad des Kap‘ Morris Jesup erstreckt. Seit 1974 bzw. 1988 ist es der grösste Nationalpark der Welt.

Dieses Forschungsprogramm begann 1926 und nach der Unterbrechung durch den 2. Weltkrieg wurde es von 1947 bis 1958 fortgesetzt. Im Jahr 1932 nahm der Geologe Eugen Wegmann (1896-1982; HLS) als erster Schweizer daran teil und bis 1958 arbeiteten etwa 80 Schweizer Forscher und Alpinisten daran mit. Im Jahr 1965 schliesslich veröffentlichte John Haller (HLS sowie Harvard University Library) nach über zehnjähriger Kompilationsarbeit in Kopenhagen, wo er beim dänischen Grönlandministerium angestellt war, die erste tektonische Karte Ostgrönlands im Massstab 1: 500‘000.

10. Waidmanns Glück: Ernst Bachmann im Frühsommer 1939.
Resümee
Geschaffen als Grundlage für wissenschaftliche Berichte, geben die Feldbücher Mittelholzers einen Einblick in die Arbeitsweise eines ambitionierten Geologen. Der Untertitel seiner 1941 publizierten Arbeit („Vorläufiger Bericht […]“) weist darauf hin, dass ihm eine umfangreichere Publikation vorschwebte. Im Vorwort dieser Arbeit schrieb er: „Die Resultate sind daher nur als vorläufige zu betrachten. Andererseits werden in einzelnen Abschnitten bereits Détails publiziert, um die bisher gewonnenen Ergebnisse gegen alle Zufälle der Kriegszeit zu sichern.

Nicht alle seiner meist stichwortartig festgehaltenen Notizen weisen jedoch wissenschaftlichen Charakter auf: Erlebnisse hielt er, zwar sparsam, auch fest. Und was sich emotional etwa hinter einer Tabelle mit Fiebertemperaturen über Tage verbirgt, lässt sich nur erahnen –, es ist das Zeugnis einer Sepsis die Peter Bachmann erlitt. Auf die Unterschiede der Aufnahmen, die Mittelholzer mit zwei verschiedenen Kameratypen machte, wurde hingewiesen: Die Leica-Aufnahmen bilden eine Art „Subtext“, sie weisen die Charakteristik einer Erzählung auf.

Jeder Teilnehmer der Expeditionen Lauge Kochs war verpflichtet, die wissenschaftlichen Ergebnisse in den monumentalen „Meddelelser om Grønland“ zu veröffentlichen. Von 1879 bis 1983 erschienen, enthalten sie Arbeiten zur Geographie, Geologie und Zoologie Grönlands, auch zur Archäologie und Botanik. So wurden auch unzählige Dissertationen und Monographien von Schweizer Wissenschaftern darin publiziert. Wie intensiv die Kontakte zwischen Dänemark und der Schweiz waren, lässt sich auch daran ablesen, dass die Naturforschende Gesellschaft Schaffhausen im März 1939 eine zweitägige Tagung über Grönland durchführte und die Ergebnisse im Jahr darauf veröffentlichte.

Was zeichnete diese Schweizer Geologen aus? Viele waren aktive Mitglieder in Alpenclubs, wussten sich also in schwierigem Gelände zu bewegen. Zum Fachlichen hielt der Nestor der Alpengeologie Rudolf Trümpy 2006 fest: „[…] Schweizer Geologen genossen einen ausgezeichneten Ruf, dank einer Ausbildung, die grosses Gewicht auf die Feldarbeit legte. Absolventen der Schweizer Institute fanden leicht Stellen bei internationalen Erz- und Erdöl-Firmen; an der weltweiten Erdöl-Exploration hatten sie massgeblichen Anteil.“ Mindestens ein Dutzend dieser „Grönland-Schweizer“ setzte die Karriere auf diesem Gebiet fort. Erst kürzlich eine Monographie von Monika Gisler über Schweizer Erdölgeologen mit dem Titel „Swiss Gang – Pioniere der Erdölexploration“ veröffentlicht. Eine moderne Darstellung über die Beiträge des Binnenlandes Schweiz zur Polarforschung fehlt hingegen noch.

Der Nachlass
Es handelt es sich um den ältesten und umfangreichsten bisher bekannten Nachlass eines Schweizer Teilnehmers der Expeditionen unter Leitung des dänischen Geologen Lauge Koch. Erschlossen ist er nach dem massgebenden Standard für die Verzeichnung von Archivalien ISAD(G) und gegliedert in: Handschriftliche Aufzeichnungen, Fotografien, Karten, Korrespondenz, Vorträge, Schulfunk, gedruckte Materialien sowie Miscellanea.

Das Feldbuch dient dem Geowissenschafter zum Festhalten seiner Befunde. Von Mittelholzer sind drei Feldbücher überliefert. Äusserlich identisch, sind sie 22 cm hoch und 15 cm breit. Ihre Einbände sind in grobes schwarzes Textilgewebe gebunden und die jeweils etwa 70 unlinierten Blätter sind fadengeheftet. Wegen des damals in der Papierherstellung häufig verwendeten Holzstoffs weisen die Seiten die typische gelbliche Verfärbung auf. Mittelholzer verwendete Bleistift für seine Aufzeichnungen, für Skizzen zusätzlich auch Farbstifte. Seine Eintragungen beginnen am 5. August 1938 und enden am 31. August 1939. Zwischen dem 2. Dezember 1938 und dem 11. März 1939 machte er keine Aufzeichnungen.

Eine weitere Quelle sind zwei in Wachstuch gebundene Notizhefte im Format 17 x 11 cm. Die nahezu täglich vorgenommen Einträge beginnen am 22. Juni und enden am 30. August 1938. Im zweiten Heft beginnen sie am 13. Mai 1939 und enden am 4. September 1939. Der überwiegende Teil dieser Aufzeichnungen ist in stenographischer Schrift abgefasst.

Weiter liegen über tausend Fotografien auf Film der Marke „Agfa Isopan F“ vor; in Form von Negativen jedoch lediglich die Kleinbild-Aufnahmen. Von sämtlichen Aufnahmen existieren jedoch Kontaktkopien. Eine Kontaktkopie wird hergestellt, indem das Filmnegativ zwischen ein Stück Fotopapier und eine Glasplatte gepresst, belichtet und entwickelt wird; diese sind in sechs Schulhefte eingeklebt.

Welchen Stellenwert die Fotografien für Mittelholzer hatten, geht aus der Einleitung seines 1941 in Kopenhagen erschienenen wissenschaftlichen Berichts hervor: „Wegen des Kriegsausbruches musste dieser Bericht bald nach Beendigung der Feldarbeit und z.T. im Militärdienst abgeschlossen werden, ohne dass das umfangreiche photographische Material und die petrographische Sammlung ausgenützt werden konnten“.

11. "Grantagletscher Talmündung → E". Aufnahme vom 3. April 1939 mit einer Rollei.












Diese Sammlung mit den Handstücken besitzt die Universität Basel möglicherweise heute noch, denn John Haller, von 1965 bis zu seinem Tod 1984 Professor für Geologie an der Universität Harvard, bat 1956  Mittelholzer brieflich um seine Feldbücher. Die Handstücke Mittelholzers befanden sich damals an der Universität Basel und Haller benötigte die Aufzeichnungen Mittelholzers zur Auswertung dieser Sammlung.

Transkription
In eckigen Klammern sind jeweils Ergänzungen gesetzt.

Erläuterungen zur Transkription
Titel: Dieser stammt von der gegenüberliegenden, sonst leeren Seite des Feldbuchs und bildet die Überschrift für die Eintragungen der Reise vom 12. März bis 4. April 1939. Tyroler Fjord: Von der Expedition Karl Koldeweys 1869-70 so benannt und erstmals erforscht (74° 28´ N 21° 12´ W). Payerland: Von der Expedition Lauge Kochs 1929-30 zum Andenken an die erstmalige Untersuchung dieses Gebiets durch Julius Payer im Jahr 1869 benannt (74° 30´ N 22° 30.0´ W).
Zeile 1: Mittelholzer verwendete die Schreibweise Kr[istian] für den Vornamen, während Schmidt Mikkelsen ihn mit Christian angibt.
Zeilen 1 bis 3: Der Wert 3,5 bezieht sich auf die Blendenöffnung, der zweite Wert auf die Belichtungszeit (1/100 Sekunde).
Zeile 4: Das Kap Oetker befindet sich im Südwesten von Clavering Ø (74° 15.3´ N 21° 59.8´ W). Benannt wurde es von der Expedition Karl Koldeweys 1869-70 zu Ehren des liberalen Publizisten und Politikers Friedrich Oetker.
Zeile 9: Die offizielle dänische Bezeichnung für die auf der Westseite der Revetpassage gelegene, 1927 errichtete norwegische Jagdstation Tyrolerheimen (74° 21.8´ N 21° 51.7´ W.) ist Revet. Die Hütte wurde 1928 neu errichtet, erhielt den Namen Moskusheimen und wurde bis 1960 benutzt.
Zeile 10: Bis 1938/39 hatte der norwegische Trapper Gerhard „City“ Antonsen bereits sechs Mal in Revet überwintert, davon vier Mal allein. Ende 1938 erlitt Antonsen einen schweren Unfall, der auch die Hilfe der Besatzung von Eskimonæs erforderte. Im Sommer 1939 musste er zur ärztlichen Behandlung nach Norwegen fahren und gab darauf seinen Beruf auf.
Zeile 12: Louise Elv bzw. Louisenelv (74° 24.1´ N 21° 8´ W): Fluss im NW von Clavering Ø, der in den Tyrolerfjord mündet und der von der Expedition Lauge Kochs 1929-30 benannt wurde.
Zeile 13: Rudi Bugt bzw. Rudis Bugt (74° 23.4´ N 21° 45.6´ W). Kleiner Fjord auf der NW-Seite von Clavering Ø, der von der Expedition Lauge Kochs 1929-30 als Rudi Bay zu Ehren des norwegischen Trappers Henry Rudi (1889-1970) benannt wurde. Mit „Föhre“ bezeichnete Mittelholzer eine Furt zwischen Clavering Ø und Payer Land, die bei Ebbe durchwatet werden kann.
Trangfjordeingang bzw. Trangfjorden (74° 27.2´ N 20° 57.9´ W). Von norwegischen Trappern ab etwa 1930 verwendeter Name für den engen Arm des Tyrolerfjords an der Nordseite von Clavering Ø.
Zeile 15: Moskus[schlachten] ist die dänische Bezeichnung für Moschusochsen. Wild kommen sie in den Tundren von Kanada und an der West- und Ostküste Grönlands vor.

Erläuterungen zu den Abbildungen 
Abbildung 1: Für Rekognoszierungsflüge führte die Goodthab eine mit Schwimmern versehene Heinkel mit. Feldbuch: Eintragungen vom 12. bis 16. März 1939 im Feldbuch Adolf Ernst Mittelholzers. Die Abbildung ist verkleinert wiedergeben und wurde unten leicht beschnitten, da sich dort keine weiteren Einträge befinden (Signatur: PACH-Mi 1.1.).
Abbildung 3: Vermutlich handelt es sich  bei der auf dieser Foto abgebildeten Mann um einen Isländer, dessen Name bisher aber nicht zu eruieren war. Eine Sequenz der Filmaufnahmen Heinrich Bütlers zeigen ihn auch auf einem wilden Ritt in der Tundra von Hudson Land.
Abbildung 7: Ausschnitt der 1933/34 aufgenommen und im Jahr 1939 vom Geodätischen Institut in Kopenhagen publizierten Karte „Clavering Ö“ (Massstab 1: 250‘000). Sie ist mutmasslich eine der weltweit ersten, die mit luftphotogrammetrischen Methoden hergestellt wurde. Die durchgegezogenen violetten Linien sind Reiserouten, die im Faksimile bzw. der Transkription erwähnt sind. Violett gestrichelte Linien markieren Routen, die vom 19. März bis 4. April zurückgelegt wurden. Die wichtigsten Arbeitsgebiete sind orange eingekreist. Rote Punkte markieren Stationen und Fängerhütten, die mit Sicherheit 1939 bestanden haben; auf der Karte des Geodätischen Instituts sind jedoch nicht alle damals bestehenden Hütten eingezeichnet. Mit einem Pfeil versehen ist Skrænthytten, die auf den Aufnahmen 234 bis 236 abgebildet ist, sie befindet sich jedoch auf der Nordseite des Flussdeltas. In Nordost-Grönland tragen Dutzende von Gipfeln und Gletschern Namen, die einen Bezug zur Schweiz haben; so unten links etwa die „Albert Heims Bjoerge“.
Abbildung 9: Die Kleinbild-Aufnahmen wurden für diesen Beitrag mit Bleistift nummeriert und verweisen auf die Zählung der Aufnahmen im Feldbuch Mittelholzers. Die in Klammern gesetzten Nummern bzw. Aufnahmen sind nicht im Feldbuch Mittelholzers notiert, aus diesem Grund fehlen auch Erläuterungen dazu. Die Aufnahmen 217, 222, 223, 226, 230 und 236 sind mit einem „V“ versehen. Vermutlich handelt es sich um eine Vorauswahl für Diapositive, die bei Vorträgen gezeigt werden sollten. Die zusätzlich mit einem roten Punkt versehene Aufnahme 230 wurde dann wohl auch tatsächlich hergestellt. Mittelholzer hielt u.a. am 21. Januar 1941 auch im Armeehauptquartier einen Vortrag.

Bei den Abbildungen 1 bis 4, 6 und 10 bis 11 handelt es sich um Mittelformat-, bei den Abbildungen 8 und 9 um Kleinbild-Aufnahmen, die von den Kontaktkopien digitalisiert wurden. (Zur Qualität der digitalisierten Abbildungen ist anzumerken, dass es sich hier ja nicht um einen Schönheitswettbewerb dreht.)

Literatur
Blümel, Wolf Dieter: Physische Geographie der Polargebiete, Leipzig 1999 (Teubner Studienbücher der Geographie).
Gisler, Monika: „Swiss Gang – Pioniere der Erdölexploration, Zürich 2014 (Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik 97).
Grönland, Tagung der Naturforschenden Gesellschaft Schaffhausen, 11.-12.3. 1939, Schaffhausen 1940 (Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Schaffhausen 16).
Haller, John: Tectonic map of East Greenland, København 1965, Textband und drei mehrfarbige Karten im Massstab 1: 500‘000.
Higgins, Anthony A.: Exploration History and Place Names of Northern East Greenland, Copenhagen 2010 (Geological Survey of Denmark and Greenland Bulletin 21).
Köppchen, Ulrike/Hartwig, Martin/Nagel, Katja: Grönland, Welver 2005.
Menzi-Biland, Arthur: Der Anteil der Schweizer an der Erforschung Grönlands. Dänische staatliche Expeditionen nach Nord-Ost-Grönland unter der Führung von Dr. Lauge Koch (1926) - 1932-1954, Holzminden 1956 (Polarforschung 1. Beiheft).
Mittelholzer, Adolf Ernst: Beitrag zur Kenntnis der Metamorphose in der Tessiner Wurzelzone. Mit besonderer Berücksichtigung des Castionezuges, Zürich 1936. 
Mittelholzer, Adolf Ernst: Die Kristallingebiete von Clavering-Ø und Payer Land (Ost- Grönland). Vorläufiger Bericht über die Untersuchungen im Jahre 1938/39, København 1941 (Meddelelser om Grønland 114, 1941, 8). Quervain, Marcel de: Polarforschung, in: Schweizer Lexikon in sechs Bänden, 5, Luzern 1993, S. 193, Sp. 1 - S. 194, Sp. 2. 
Schmidt Mikkelsen, Peter: North-East Greenland 1908-60. The Trapper Era, Cambridge 2008.  
Stonehouse, Bernard: Tiere der Arktis. Leben und Lebensräume im hohen Norden, München 1974.
Trümpy, Rudolf: Geologie, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 5, Basel 2006, S. 292, Sp. 2 - S. 294, Sp. 1.

Freitag, 19. September 2014

Peter Schmidt Mikkelsen: North-East Greenland 1908-60. The Trapper Era. Cambridge 2008, Rezension von Stefan Kern

Grönland ist die grösste Insel der Welt. Sie dehnt sich vom 59. bis zum 83. Breitengrad auf über 2‘650 Kilometern aus. Nur knapp 20 Prozent ihrer Fläche ist vom Eis nicht bedeckt. Bedingt durch den Nordatlantik- und den Golfstrom sind an der Westküste viel mehr Siedlungen entstanden, als an der Ostküste. Dort sind es nur zwei: Das etwas südlich des Polarkreises liegende Tassilaq (Ammassalik) sowie die ungefähr 600 Kilometer nördlich davon gelegene Siedlung Ittoqqortoormiit (Scoresbysund). Sie wurde 1925 auf Veranlassung der dänischen Kolonialverwaltung gegründet. Die Küstengewässer Ost-Grönlands wurden 1607 vom Seefahrer Henry Hudson erstmals erkundet. Vereinzelt auch von dänischen und holländischen Walfängern, als ihre Fanggründe in Spitzbergen und Jan Mayen zu versiegen begannen. Der Brite Douglas C. Clavering, Kapitän der Griper, überlieferte 1823 eine Begegnung mit zwölf Inuit in Nordost-Grönland. Sie endete dramatisch: Nachdem einer der weissen Männer einen Inuk dazu überredet hatte, eine Pistole abzuschiessen, floh die Gruppe. Sie gehörten einer Population an, die von Nordwest-Grönland, den Nordteil der Insel durchquerend, die Küste Ostgrönlands besiedelt hatte. Seit dieser Begegnung gilt sie als ausgestorben.

Die wissenschaftliche Erforschung Ost-Grönlands setzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch deutsche, dänische und schwedische Expeditionen ein. Im 20. Jahrhundert prägte der Däne Lauge Koch sie jahrzehntelang. Geboren im Jahr 1892, verschrieb sich der promovierte Geologe der Erforschung Grönlands. Das Ziel seiner von ihm geleiteten Expeditionen in den Jahren von 1926 bis 1958 war die geologische und topographische Untersuchung und Kartierung von Nordost-Grönland. Nur vom 2. Weltkrieg unterbrochen, wurden die Expeditionen grosszügig mit Mitteln und Personal ausgestattet. Die Wissenschafter untersuchten in kleinen, autonom operierenden Gruppen den Untergrund entlang der weitverzweigten Fjordsysteme und die zahlreichen Inseln. Am Ende des Sommers, nach sechs bis acht Wochen, zogen sie wieder ab. Zwischen 1932 und 1958 nahmen auch rund 80 Schweizer Wissenschafter an den Lauge-Koch-Expeditionen teil. Auf der Grundlage ihrer Forschungen entstanden zahlreiche Dissertationen, und oft war es auch der Beginn von steilen Karrieren. 

Station Eskimonæs im Winter 1938/39
So etwa die von Eduard Wenk und Augusto Gansser: Beide waren nach ihren Arbeiten in Grönland auf der ganzen Welt in der Rohstoffexploration tätig und erhielten später Lehrstühle für Geologie an den Universitäten von Basel und Zürich sowie an der ETH Zürich; Wenk wurde 1970 auch Rektor der Universität Basel. Oder der um eine Generation jüngere Erdhart Fränkl, der während der Sommer von 1948 bis 1953 in Nordost-Grönland arbeitete und auch einmal überwinterte. Danach war er in Südamerika und Afrika tätig; seine Karriere beendete er als Chefgeologe des Shell-Konzerns.Wichtigstes Ergebnis dieser Expeditionen war die im Jahr 1965 veröffentlichte geologische Karte Nordost-Grönlands. Der Basler John Haller kompilierte sie während eines Jahrzehnts aus den Ergebnissen Dutzender Untersuchungen. Haller wurde später Professor für Geologie an der Harvard University.

Die Habitués an der Küste Nordost-Grönlands waren jedoch dänische und norwegische Trapper. Sie stellten dem arktischen Fuchs sowie dem Eisbär nach. Für die Überwinterung errichteten sie Wohnstationen sowie knapp dreihundert Hütten, die sie für ein oder zwei Nächte während ihrer Reisen mit Hundeschlitten benutzten. Von Oktober bis etwa Ende Juni fuhren sie auf dem gefrorenen Meer regelmässig ihre Routen entlang der Küste ab. Dabei legten sie mit Strychnin versetzte Köder aus und kontrollierten die aus Treibholz erbauten und mit Steinen beschwerten Fallen. Die Füchse wurden darin, ihr Fell schonend, erschlagen. Meistens boten die temporär genutzten Unterkünfte nur gerade Platz für einen auf ein paar Holzplanken ausgerollten Schlafsack aus Rentierfell und für einen gusseisernen Ofen.

Für die norwegischen Seehund- und Walrossjäger waren bis Ende des 19. Jahrhunderts der Archipel Svalbard (Spitzbergen) und die Insel Jan Mayen die traditionell genutzten Fanggebiete. Als im Juli 1889 eine kleine Flotte erfolglos westlich von Svalbard kreuzte, entschloss sich der 31jährige Ragnvald Knudsen, die Hekla mit der 48köpfigen Mannschaft nach Ostgrönland zu dirigieren. Aufzeichnungen früherer Expeditionen hatte er entnommen, dass dort die Chancen für Beute gut sein könnten. Nach der Rückkehr des Schiffs am 28. August wurde in Hammerfest folgende Ladung gelöscht: 1‘000 Fässer mit Blubber, über 3‘500 Seehunde, das Fleisch von 267 Walrossen, 220 Kilogramm Elfenbein ihrer Hauer, neun Eisbärenfelle sowie das Fleisch und die Decken von 24 Moschusochsen. Diese Sensation verbreitete sich rasch. Bis ins Jahr 1931 suchten norwegische Fängerschiffe noch 124 Mal die Küste Nordost-Grönlands auf.

Fänger operierten von Schiffen aus. Waren die Verhältnisse gut, fuhren sie den Eiskanten entlang, um Jagd auf Robben und ihre Widersacher, die Eisbären, zu machen. Waren die Verhältnisse nicht gut, lavierten sie tage- oder wochenlang im Treibeis und im Nebel. Manchmal stiessen sie an Stränden auch auf schlafende Walrosse. Dann wurden zuerst diejenigen Tiere erschossen, welche der Strandlinie entlang lagen. So war den hinter ihnen liegenden Tiere die Flucht ins Meer verwehrt. Diese Methode erklärt die gelegentlich enorm hohen Zahlen erbeuteter Tiere. Magnus K. Giæver aus Tromsø begann anfangs des 20. Jahrhunderts für gutbetuchte Touristen Jagdsafaris nach Nordost-Grönland anzubieten. Die Idee wurde kopiert, doch mit dem Beginn des 1. Weltkriegs kam dieses Geschäft zum Erliegen. Für die Felle des arktischen Fuchses bestand damals ebenfalls eine Nachfrage. Vom Schiff aus konnte sie jedoch nicht gejagt werden. Eigner und eigens dafür gegründete dänische und norwegische Firmen begannen damit, im Sommer einzelne Jäger oder kleine Mannschaften an der Küste abzusetzen und Unterkünfte zu bauen. Die Bedeutung dieses Geschäfts ist bezifferbar: Zwischen 1908 und 1960 erbeuteten 527 Trapper etwa 20‘000 Füchse und 571 Eisbären.

Für gebildete Bürger in Mitteleuropa stand damals ausser Frage, dass Dänemark die Hegemonie über ganz Grönland ausübte. Schliesslich hatten die Dänen vor zweihundert Jahren damit begonnen, den Ureinwohnern den rechten Glauben zu vermitteln und Handel mit ihnen zu treiben; Zucker, Kaffee, Baumwollstoff, Holz und Waffen wurden gegen Felle eingetauscht. Für Norwegen war der Status Nordost-Grönlands jedoch nicht geklärt und mit der zunehmenden Nutzung dieses Gebiets spitzte sich diese Frage zu. Am 29. Juni 1931 hissten fünf Norweger im Namen ihres Königs Hakoon VII die norwegische Flagge in Myggbukta. Orchestriert von der Presse und Politikern, reklamierten sie ein Gebiet vom 71. bis zum 75. Breitengrad als „Eirik Raudes Land“. Die Regierung Dänemarks sah sich darauf herausgefordert und brachte den Fall vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Nach Anhörungen und Beratungen entschied das Gericht im Frühjahr 1933, dass Dänemark die Herrschaft über ganz Grönland ausüben solle. Dänemark gelang dies jedoch nicht lange, denn nach dem deutschen Überfall im Frühjahr 1940 wurden praktisch alle Verbindungen nach Grönland unterbrochen. Der dänische Botschafter in den USA unterzeichnete in Washington ein Jahr danach ein Abkommen, das den USA die Verteidigung Grönlands und die Einrichtung von Luftwaffenstützpunkten erlaubten. Dem für die Herstellung von Aluminium benötigten Mineral Kyrolith, das an der westgrönländischen Küste abgebaut wurde, massen die Alliierten strategische Bedeutung zu.

Der Ostküste kam aus einem anderen Grund kriegsentscheidende Bedeutung zu: Mit den Wetterdaten von dort konnten Prognosen für den gesamten Nordatlantik erstellt werden. Um Versuche der Deutschen abzuwehren, mit Schiffen oder U-Booten Mannschaften dort abzusetzen und Wetterstationen einzurichten, wurde 1941 die Nordøstgrønlands Slædepatrulje gegründet. Sie setzte sich aus neun Dänen und einem Norweger zusammen: Trapper, die das mehr als tausend Kilometer lange Gebiet, das zu überwachen war, bestens kannten. Ausgerüstet und logistisch unterstützt wurden sie von den amerikanischen Streitkräften. Die Befürchtungen der Amerikaner bewahrheiteten sich kurze Zeit später, als deutsche Truppen sich dort einzunisten versuchten. Nach dem 2. Weltkrieg stillgelegt, wurde diese Fernspäh-Einheit 1950 von der dänischen Marine unter grösster Geheimhaltung erneut aktiviert. Seit 1953 unter dem Namen Slædepatruljen SIRIUS, geniesst diese Truppe mit eigener Hundezucht bis heute einen legendären Nimbus. Erich Schmidt Mikkelsen leistete Ende der Siebzigerjahre Dienst bei dieser Einheit.

In einführenden Kapiteln dokumentiert er die Entdeckungs, Erforschungs- und Wirtschafts-Geschichte Nordost-Grönlands. Statistiken weisen die wirtschaftliche Bedeutung auch quantitativ aus. Der Hauptteil der über 500 Seiten umfassenden, lesefreundlich zweispaltig gesetzten und in hervorragender Qualität gedruckten Monographie ist den Überwinterungs-Stationen der Trapper und Forscher gewidmet: Alabamahuset, Dødemandsbugten, Nordfjordhuset oder Zackenberg sind einige ihrer klingenden und sprechenden Namen.

Station Kulhus im Jahr 2004
In einem weiteren Kapitel sind sämtliche Bauten systematisch beschrieben: Koordinaten, ihr Name, durch wen und wann sie erbaut wurden, die genaue topographische Lage und der bauliche Zustand, Grundmasse und Einrichtung. Stets ist auch der Kontext ihrer Erbauung und Nutzung erfasst. Aktuelle Innen- und Aussenaufnahmen der Hütten und ihrer Umgebung, ergänzen dieses denkmalpflegerische Inventar. Einige alte Materialdepots und Relikte bergbaulicher Unternehmungen sind in einem weiteren Abschnitt dokumentiert. Das Buch schliesst ab mit einem Abkürzungsverzeichnis, mit einem Wörterbuch topographischer Begriffe in Dänisch und Norwegisch und ihrer Übersetzung ins Englische, Verzeichnissen der verwendeten Literatur, der Quellen sowie der Belegstellen. Den gezielten Zugriff auf den Inhalt ermöglichen mehrere Register sowie vier Karten, auf denen die Stationen und Hütten sowie die dänischen und norwegischen Territorien eingezeichnet sind.

Im Sommer 1989 unternahm Schmidt Mikkelsen mit Freunden eine Kajakexpedition von Daneborg, einem Stützpunkt der Sirius-Patrouille, nach dem etwa 260 Kilometer südlicher gelegenen Mestersvig, einer aufgelassenen Bleimine. Während den Vorbereitungen begann er in Büchern danach zu forschen, durch wen und wann die Hütten erbaut worden waren, denen sie auf ihrer Reise begegnen würden. Von seinen früheren Reisen waren sie ihm zwar vertraut, doch wusste er kaum etwas über ihre Geschichte. Neben den zahlreichen Zeltplätzen der Ureinwohner sind es die einzigen Spuren menschlicher Tätig-keit in den immensen Landschafträumen. Nach seiner Rückkehr weitete er seine Nachforschungen auf dänische und norwegische Archive aus. Dort wertete er Archivalien, Tage- und Logbücher aus und begann Kontakte zu ehemaligen Trappern und anderen Oldtimern in Dänemark und Norwegen zu knüpfen, die „dort oben“ gelebt hatten. Bei der ersten Kontaktnahme am Telefon fielen ihre Reaktionen oft identisch aus: “Nordost-Grönland? Ja, dort verbrachte ich die besten Jahre meines Lebens.“ Mit fünf weiteren dänischen Nordost-Grönland-Enthusiasten gründete Schmidt Mikkelsen 1991 die Non-Profit-Organisation Nanok. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Wissen um Nordost-Grönland und seine Kulturgeschichte bekannt zu machen und einen Beitrag zur Erhaltung der vom Zerfall bedrohten Bauten zu leisten. Seither restaurieren jeden Sommer ehrenamtlich tätige Teilnehmer diese Bauten. Finanziell unterstützt werden sie dabei von der im Natur- und Tierschutz tätigen Stiftung Aage V. Jensens Fonde.

Die Ergebnisse der Recherchen Peter Schmidt Mikkelsens wurden erstmals 1994 in Dänemark veröffentlicht. Weil das Buch eine gute Aufnahme fand, erschien es überarbeitet 2001 erneut. Mit Unterstützung der grönländischen Selbstverwaltung wurden durch 20 Nanok-Mitarbeiter zwischen 2003 und 2007 die Daten aller Bauten systematisch erhoben und fotografisch dokumentiert. Sie sind in die 2008 erschienene englische Ausgabe aufgenommen worden. Reisende können daraus auch einen ganz praktischen Nutzen ziehen: Zu jeder Hütte sind die mit einem GPS ermittelten Koordinaten angegeben.

Um Arbeit als Trapper in Nordost-Grönland zu finden, waren offenbar keine speziellen Qualifikationen erforderlich. Manche der teilweise blutjungen Männer arbeiteten vorher als Gehilfen in Warenhäusern oder in Büros. Unternehmungslust, Mut und die Bereitschaft zu einem zwar weitgehend selbstbestimmten, aber einfachen Leben unter harschen Bedingungen, scheinen wichtiger gewesen zu sein. Nicht jedem behagte jedoch das einsame und raue Leben, denn manche traten nach ein, zwei Jahren die Heimreise an. Wer die Stationen im Winter bewohnte, geht jeweils im ersten Abschnitt zu den Darstellungen der Stationen hervor. Wollte man dort jedoch längere Zeit überleben, war Erfahrung eminent wichtig. Doch auch sie konnte versagen: Als der Norweger Gerhard „City“ Antonsen, der schon mehrere Male allein überwintert hatte, im Winter 1938/39 während eines Schneesturms routinemässig die Tür seiner Hütte im Granta Fjord mit dem Messer zusperren wollte, sprang es ihm ins Auge. Zur Tradition unter den Trappern war es geworden, sich um das Jahresende gegenseitig zu besuchen. Aus diesem Grund wurde der Schwerverletzte von dänischen Trappern entdeckt, worauf eine Rettungsaktion zwischen den Besatzungen zweier Stationen einsetzte.

Geologe Adolf Ernst Mittelholzer im Frühjahr 1939
Auf einer davon, Eskimonæs, lebten auch zwei Schweizer: Der promovierte Geologe Adolf Ernst Mittelholzer und sein Assistent Peter Bachmann; es waren die letzten Schweizer, die sich vor dem 2. Weltkrieg in Nordost-Grönland aufhielten. Antonsen überlebte und kehrte im Sommer darauf als wohlhabender Mann nach Oslo zurück. Dort unterzog er sich einer Operation und brachte darauf sein Geld „unter die Leute“. Erst 45 Jahre alt, wurde sein Leben an der Pazifikküste, wo er als Holzfäller arbeitete, 1945 von einem Baum ausgelöscht.

Drei Frauen arbeiteten auch als Trapper. „Das ist das Ende aller Rekordfänge“ rief ein Trapper aus, als er hörte, dass die 28jährige Petra Winther im Jahr 1939 zu ihrem Mann auf die Station Hoelsbu gezogen war. Tatsächlich fielen die Fänge höchst unterschiedlich aus. Im Rekordwinter 1937/38 erbeuteten norwegische Trapper gut 2‘000 Füchse. Auf den Fotos, viele davon aus privater Hand, sind etwa die Strecken mit schneeweissen Fellen zu sehen, die an Leinen zum Trocknen vor den Stationen aufgehängt sind. Auf einem anderen posieren zwei Trapper vergnügt vor der Kamera; in ihrer Mitte ist ein Apparat zur Herstellung von Brantvin aufgebaut.

„Der Raum ist wichtiger als die Zeit.“ Dieses Diktum des deutschen Geographen und Begründers der Geopolitik Karl Haushofer stellte Fernand Braudel an den Anfang seiner Vorlesung über Geohistorie, die er in einem deutschen Gefangenenlager für Offiziere in Lübeck im Jahr 1941 hielt. Während einer relativ kurzen Zeitspanne öffnete sich in Nordost-Grönland ein Fenster, wo sich eine bestimmte Art von Menschen an eine Umgebung mit spezifischen Bedingungen anpasste. Sie fanden dort ein wirtschaftliches Auskommen. Ein soziales Netz wurde gesponnen und eine eigene Kultur bildete sich heraus. Als um 1960 die Nachfrage nach Fuchsfellen zurückging, zogen die Trapper von dort weg. Mit dem 1974 deklarierten Nationalpark – der nur unter strengen Auflagen der Behörden betreten werden darf – schloss sich dieses Fenster ganz. Denkbar ist, dass es in der Zukunft erneut aufgestossen wird. Im Grund der Grönlandsee werden grosse Erdölreserven vermutet. Die Nachfrage nach Rohstoffen ist gross, und wertvolle Erze werden auch im Untergrund des „sechsten Kontinents“ vermutet. Auf der Agenda der beiden Regierungschefinnen Grönlands und Dänemarks steht die Frage, ob in Grönland Uran abgebaut werden darf oder nicht: Die Verfassung Dänemarks verbietet dies, das Parlament Grönlands stimmte dem Abbau im vergangenen Herbst zu.

Assistent Ernst Bachmann im Frühjahr 1939
Links
Das Buch kann für £ 45 beim Scott Polar Research Institute in Cambridge bezogen werden  http://www.spri.cam.ac.uk/shop/books/arcticexploration.html oder auch bei Nanok. Dort sind auch die jährlichen Rechenschaftsberichte veröffentlicht http://www.xsirius.dk/nanok.html

Literatur
Braudel, Fernand: Geschichte als Schlüssel zur Welt. Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941. Herausgegeben von Peter Schöttler. Stuttgart 2013.  

Abbildungsnachweis
1. Station Eskimonaes. Sie wurde im März 1943 vom deutschen Marinewetterdienst niedergebrannt und das Gelände zwei Monate später vom US Army Air Corps bombardiert. Nachlass Adolf Ernst Mittelholzer. Kontaktabzug auf Barytpapier (ca. 55 x 55 mm). Polararchiv Schweiz. - 2. Station Kulhus. Aufnahme im besprochenen Buch auf Seite 351. Copyright: North-East Greenland Company Nanok. - 3. Geologe Adolf Ernst Mittelholzer im Frühjahr 1939. Nachlass Adolf Ernst Mittelholzer. Kontaktabzug auf Barytpapier (ca. 55 x 55 mm). Polararchiv Schweiz. - 4. Assistent Ernst Bachmann im Frühjahr 1939. Nachlass Adolf Ernst Mittelholzer. Kontaktabzug auf Barytpapier (ca. 55 x 55 mm). Polararchiv Schweiz.

Mittwoch, 31. Juli 2013

Jost auf Disko (Teil 2). "Wie die Felsen lockten! Es war ja erster August, und da sollte ein Schweizer etwas Rechtes tun!" - Zwei Expeditionen des Berners Wilhelm Jost auf der westgrönländischen Insel Disko vor hundert Jahren, von Stefan Kern

Kurze Zeit nach der Rückkehr Morten Porsilds, seines Sohns Thorbjörn und von Wilhelm Jost von der zweiwöchigen Schlitten-Expedition ins Innere der westgrönländischen Insel Disko im Mai 1913 (Post vom 19. Mai 2013) muss ein Versorgungsschiff in Godhavn eingetroffen sein.

An Bord befand sich auch der 19jährige Student Lauge Koch. Es war seine erste Reise in die Arktis. Beauftragt war er nach fossilen Pflanzen zu suchen. Persönlich war er an Ornithologie interessiert. Im Jahr 1929 promovierte er dann mit Stratigraphy of Greenland.

Im Rückblick auf diesen Sommer schrieb er: "Als die Reise wieder nach Süden ging und Grönlands Berge und Horizont verschwanden, war mein Entschluss gefasst: ich wollte die geologische Karte Nordgrönlands schaffen und die vorläufige Untersuchung des Landes abschliessen." (Koch 1928) Jahrzehnte später bilanzierte der französische Polarforscher Jean Malaurie seine Leistungen mit den Worten: "Über Generationen hinweg kann ihm auf diesem Feld kein anderer das Wasser reichen." (Malaurie 2003, S. 203)

Sein Onkel, der Infanteriehauptmann und Glaziologe Johan Peter Koch, befand sich in diesem Sommer noch weiter im Norden: Zusammen mit dem deutschen Geowissenschafter Alfred Wegener und zwei isländischen Kameraden gelang ihnen - nach Nansen im Jahr 1888 und de Quervain im Jahr 1912 - die dritte und bisher nördlichste Überquerung des Inlandeises.

Mitte Juli 1913 brachen Morten Porsild, Botaniker und Vorsteher der Arktischen Station in Godhavn, sein Sohn Thorbjörn, Wilhelm Jost und Lauge Koch sowie zwei Einheimische zur zweiten Expedition in diesem Jahr auf. Diesmal sollte mit der Clio borealis, einem kleinen Segel-Kutter mit Dieselmotor, die ganze Insel über die Ost- und die Nordküste umrundet werden.

Ende Juli erreichten sie die Westküste und liefen in den Nordfjord ein, den nördlichsten der drei Meeresarme, von dem dieser Teil der Küste geprägt ist.

"Wir hatten vor drei Tagen das Schiff verlassen, um im Stordal dem nördlichen der drei grossen Täler, die in den tief in die Insel Disco hineingreifenden Nordfjord einmünden, eine Kartenskizze aufzunehmen. Wenn möglich, sollte der Zusammenhang des Stordal mit dem grossen Tale festgestellt werden, dessen Gletscherende wir im Mai anlässlich unserer Durchquerung des Discoinsel auf Hundeschlitten untersucht hatten. Trotz der ungünstigen Witterung verlief diese Arbeit befriedigend. Die kurzen, lichten Augenblicke, die uns eine 150-300 m hohe Nebelschicht gewährte, wurden umso eifriger ausgenützt. Leider durften wir nicht mehr Zeit für diese Arbeit verwenden."

Blick aus dem Stordal in Richtung Südosten. Skizze nach einer Fotografie Porsilds (Jost 1919)













Nach ausgiebigem Schlaf, der den 60 Kilometern Wegstrecke ins Stordal und zurück geschuldet war (Punkt 1 auf der untenstehenden Karte), wachte Jost in der Kajüte der Clio borealis auf.

In seinem Bericht Augusttage an der Westküste der Discoinsel hielt er fest: "Und nun stand die Sonne am hellen Himmel und wob ihre Strahlen in den lichten Duft, der vom Nebel noch übriggeblieben war und die schwarzen, kahlen, furchtbar ernsten Basaltwände hinter einem lichtgrauen Schleier verbarg. So erschienen diese beänstigenden Riesenmauern in die undeutlichste Ferne gerückt. [...] Sie mahnte mich an meine Pflicht. Neun Uhr war vorbei und die Terminbeobachtungen waren noch nicht gemacht. Da gewahrte ich erst, dass am Hinterteil des Bootes zwei Fähnchen im Winde wehten, beide rot und weiss, wie zwei Geschwister, das Dannebrogkreuz und das Schweizerkreuz. Es war heute der erste August, unser Bundesfeiertag. Wie hatte mein liebenswürdiger Wirt und Freund, der die Schweiz wohl kennt, das Fähnlein plötzlich herbekommen?

[...] Nachmittags fuhren wir über den Fjord und legten unter den Steilabstürzen des Südufers an. Tausend und mehr Meter hoch springen hier die schwarzen Basaltwände empor. Wie mächtige Bretter liegen die wenig gestörten Schichten übereinander. Säulenbasalt und basaltische Tuffe wechseln ab und begünstigen eine treppenartige Verwitterung der Felswände. Da und dort zeigten die Wände tiefe Nischen, in denen wie vorweltliche Riesenkröten tote Gletscher liegen, Gletscher, die ihr Firngebiet verloren haben und nun wie unter einer warzigen Haut von einer dicken Schuttdecke begraben sind. Von drei Seiten her werden fortwährend neue Blöcke auf die Leblosen heruntergerollt, als ob ihre Leichname täglich neu zu Tode gesteinigt werden sollten. Die Schuttdecke verwehrt den Sonnenstrahlen den Zutritt und verzögert daurch das vollständige Zusammenschmelzen der Gletscher. So ragt nicht weit von der Landungsstelle ein solcher Gletscher noch jetzt bis zum Meer hinab." (Punkt 2 der Karte)

Südküste des Nordfjord. Skizze nach einer Fotografie Porsilds (Jost 1919)



Wie die Felsen lockten! Es war ja erster August, und da sollte ein Schweizer etwas Rechtes tun! Nach der Terminbeobachtung um 9 Uhr machte ich mich bereit und schwang meinen Rucksack über die Schultern; er war leicht. Ausser dem Feldstecher, einem Peilkompass, dem Aneroidbarometer [Dosenbarometer], einem Assmannschen Psychrometer [Hygrometer zur Bestimmung der relativen Luftfeuchtigkeit], einem Anemometer [Windmesser] war nur sehr wenig Proviant in Form von Chokolade drin. [...] In 600 m Höhe betrat ich um 10 Uhr 50 Minuten abends den Grat. [...] Ein derartig scharf ausgeprägter Grat gehört in der Basaltlandschaft von Disco zu den Ausnahmen. Die Basaltberge der Insel sind in typischer Ausbildung Tafelberge, die oft Gletscherkappen tragen. Die tiefen Taleinschnitte haben aber sehr schroffe Gehänge zur Folge. So sehen die Discoberge aus der Ferne betrachtet aus, wie wenn ein Zimmermann mit einer Riesensäge aus einem einen Kilometer dicken Stoss von Brettern herausgeschnitten worden wären.

Dieser Grat aber ist scharf zugespitzt, weil sich südlich von ihm ein tiefes Paralleltal zum Fjord eingegraben hat, dessen Gletscherbäche, zu einem vereinigt, die Kette weiter westlich quer durchbrechen. Umso schöner war das Wandern, und besondere Schwierigkeiten boten sich vorläufig keine. So gelangte ich schon eine halbe Stunde vor Mitternacht auf eine Graterhebung, die ich der flammenden Farben wegen Nordlichtgipfel nannte. In 820 m Höhe wurde hier zum ersten Male Rast gemacht und mit dem Peilkompass die hauptsächlichsten Punkte des Horizonts aufgenommen. [...] Auch der weitere Verlauf des Grates bot keine technischen Schwierigkeiten. Einzig ein steiles, etwas breiteres Bollwerk verursachte etwelche Arbeit, indem es mir seine vom Steinschlag glatt gehämmerte Flanke zukehrte. Ein ideales Klettergestein war dieser Basalt nicht. Dagegen waren die Kamikker, die grönländischen Fellstrümpfe, in denen man sich so gut gewöhnt hatte, jede Zehe zu gebrauchen, ganz brauchbare Kletterschuhe. [...] Auf dem breiten Rücken, der sich an das Bollwerk anschloss, erreichte ich gegen zwei Uhr morgens des zweiten August die höchste Felsenegg der Kette. Ich befand mich 1126 m über dem Meeresspiegel.

Die drei Meeresarme, die die Westküste prägen: Nord-, Mellem- und Diskofjord





































Östlich von mir lag eine breite Firnkuppe, mein nächstes Ziel, behaglich im Sonnenlicht. Auf der Wanderung dorthin gelangte ich auf eine schmale Scharte, auf der eine 15 cm breite Pfadspur ausgetreten war. Hier oben! Ich traute meinen Augen nicht. Bei näherer Untersuchung endeckte ich im sandigen Gräblein eine Menge Abdrücke von Pfoten und Krallen. Pflegte hier eine ganze Fuchsfamilie nach der Mahlzeit ihre Tausend Schritte zu tun? Dieser Schneegipfel (1230 m) wurde um 3 Uhr 10 Minuten erreicht. Der Firn- und Eisschild brach gegen den Fjord zu senkrecht ab und wies dort eine Mächtigkeit von ungefähr 30 m auf." Dieser Firn- und Eisschild war 20 Jahre später verschwunden, wie Jost auf der in den Jahren von 1931 bis 1933 aufgenommenen Karte feststellen musste.

Die Kette bog nun etwas gegen Südosten um [... und] gegen fünf Uhr erreichte ich den Gipfel, der eine barometrisch gemessene Höhe von 1324 m aufweist (Punkt 3 der Karte; effektiv 1292 m). Trotzdem die Cirrostraten schon den grössten Teil des Nordhimmels bedeckten, blendete die Sonne bereits. In dem grossen, östlichen Tale vor mir lag ein bleicher, dunstiger Schleier, der besonders den im Schatten liegenden Nordhang vor allzu eindringlichen Blicken schützte. Umso herrlicher glänzten die Firnen und grossen Hängegletscher der Bergkette, die das Tal gegen Süde abgrenzt. Einen gerade gewaltigen Eindruck machte auf mich der grosse Talgletscher. Ich glaube, ich habe auf der Discoinsel keinen so grossen gesehen."

Hier erwog Jost den Abstieg in ein östlich gelegenen Tal, um von dort zurück an den Nordfjord zu gelangen. Doch sein Schuhwerk hatte gelitten und den Zeitbedarf veranschlagte er höher, als die Rückkehr auf der Route, auf der er gekommen war.

"Dann wollte ich nicht, dass sich meine Kameraden um mich ängstigen sollten. So kehrte ich denn um. Um 8 Uhr morgens stand ich wieder auf der hohen Felsenegg und hatte damit den weniger interessanten Teil des Marsches hinter mir. An dem geringen Interesse, das mir die grossartige Szenerie abzwang, erkannte ich meine Ermüdung, trotzdem die Beine automatisch weiterarbeiteten. [...] Die Gratwanderung erfrischte mich wieder; einzig die griffarme Flanke des Bollwerkes bot einige unangenehme Stellen. Gegen 11 Uhr mittags betrat ich wieder das Boot. Das letzte Stück des Abstieges wurde mehr und mehr zu einem Büssergang. Die Sohlen meiner Kammiker waren durchgescheuert und auch die mir von meiner Mutter so fürsorglich gestrickten schafwollenen Strümpfe zeigten an den Sohlen grosse Löcher. Trotzdem meine Füsse seit bald anderthalb Jahren gut abgehärtet waren, fühlten sie sich doch erbarmungslos gepeinigt; denn Basaltgerölle sind hart und scharfkantig. Der Schlaf, den ich mir nach 27 Stunden wieder gönnte, war nur dadurch gestört, dass ich während der Zeit der stärksten Gezeitenströmung unsanft hin uns her gerollt wurde, sodass ich mich tüchtig gegen die Wände stemmen musste." (Jost 1919)

Die Clio borealis nahm darauf weiter Kurs nach Süden. Ein Sturm zwang sie, in der Bucht von Ivigssarkut (Punkt 4 der Karte) Schutz zu suchen.

"Aber noch im Hafen suchten starke Windstösse, die sich von den Bergen herunter stürzten, uns das Boot vom Anker zu reissen, so dass wir Wache stellen mussten." Als es aufgeklart hatte, fuhren sie tiefer in den Mellemfjord ein und ankerten an der Nordseite des Fjords, bei Itivdlersnak (Punkt 5 auf der Karte). Dort wurde das nordwärts führende Iterdlagssuaq-Tal erkundet. Am Abend des 6. August erreichten sie die Siedlung Kangerluk im Disko-Fjord, die bis heute bewohnt ist. Nach drei Wochen Fahrt war es das erste Mal, dass sie wieder auf Menschen trafen (Punkt 6 der Karte).

Arktische Station in Godhavn (Rikli 1911)
Wenige Tage später und nach mindestens 460 Kilometern Strecke auf See traf die Expedition wieder in Godhavn (heute: Qeqertarsuaq) ein, wo Porsild mit seiner Familie lebte. Spätestens im September müssen die beiden Teilnehmer der "Schweizerischen Grönland-Expedition 1912-1913" Jost und Stolberg sowie Lauge Koch wieder nach Europa heim gereist sein.

Jost, der in Mathematik promoviert hatte, wurde nach seiner Rückkehr in die Schweiz als Physiklehrer an die Berner Realschule gewählt. Dort unterrichtete er bis 1952. Von 1924 bis zu seinem Tod im Jahr 1964 war er Mitglied und zuletzt Vizepräsident der Gletscherkommission der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft (SNG); ab 1931 war er an pionierhaften seismischen Untersuchungen auf dem Rhonegletscher beteiligt. Während seines Studiums war er dem Akademischen Alpenclub Bern und der Sektion Bern des Schweizer Alpenclub beigetreten; in Anerkennung seiner Verdienste wurde er später zum Ehrenmitglied gewählt.

Veröffentlichungen
Jost, Wilhelm (1919): Augusttage an der Westküste der Discoinsel. In: Akademischer Alpenclub Bern, Jahresbericht 13(1917/18). Bern. S. 33-48.
- Quervain, Alfred de und Wilhelm Jost: Aerologische Arbeiten in Verbindung mit isländischen Beobachtungen des K. Dän. Meterologischen Instituts. In: Ergebnisse der Schweizerischen Grönlandexpedition 1912-1913. Basel 1920. S. 311-402.
- Zur Erinnerung an Alfred de Quervain. In: Die Alpen. 3(1927). S. 48-51.
- Gletscherschwankungen auf der Insel Disco in Westgrönland. In: Zeitschrift für Gletscherkunde, für Eiszeitforschung und Geschichte des Klimas. 27. Band (1941). S. 20-28.

Es wurden nur Veröffentlichungen berücksichtigt, die in einen unmittelbaren Zusammenhang mit Wilhelm Josts Aufenthalt in Grönland stehen. Sein Nachlass wird im Archiv der ETH Zürich aufbewahrt.

Veröffentlichungen zu Josts Leben und Werk
Adrian, H.: Wilhelm Jost 1882-1964. In: Mitteilungen der Naturforschen Gesellschaft in Bern. Neue Folge, 22 (1964). S. 321-324.
H., R.: Dr. phil Wilhelm Jost 1882-1964. In: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 144(1964). S. 267-268.
Kuhn, Jürg (2005) Die Krafteinheit. In: 100 Jahre Akademischer Alpenclub Bern 1905-2005. Bern. S. 223.

Literatur
Dawes, Peter R.: The Koch family papers. Part 1: New insight into the life, work and aspirations of Greenland geo-explorer Lauge Koch (1892-1964). Copenhagen, Geological Survey of Denmark and Greenland (GEUS), 2012. ISBN 978-87-7871-335-3. 
Malaurie, Jean (2003): Mythos Nordpol. 200 Jahre Expeditionsgeschichte. Hamburg.
Olsen, Anne und Karsten Secher: Gronlandforskeren Lauge Koch. (Polarprofiler). Kobenhavn 1964.
Qeqertarsuaq, Disko Ø. 1:250'000. Saga-Maps. Kopenhagen. Ca. 1990.
Rikli, Martin und Arnold Heim: Sommerfahrten in Grönland. Frauenfeld 1911.

In der Bildersammlung des Arktischen Instituts in Kopenhagen http://www.arktiskebilleder.dk sind die Fotografien Morten Porsilds zugänglich. Mit dem String Porsild 1913 können die Bilder von beiden Expeditionen aufgerufen werden.

Die Website des Arktischen Institut in Kopenhagen ist unter http://www.arktiskinstitut.dk/ zugänglich. Über die Geschichte der Arktischen Station informiert http://arktiskstation.ku.dk/english/about/history/

Und zum Schluss: Von Wilhelm Josts Aufenthalt auf der Insel Disko ist folgende Anekdote überliefert "[Er] freundete sich mit der einheimischen Bevölkerung in Godhavn schnell an. Seine Grösse und seine Körperkräfte ermöglichten es ihm, unter jedem Arm einen 75 Kilogramm schweren Wasserstoffzylinder auf einmal zu tragen. Das imponierte den Inuit dermassen, dass '1 Jost' fortan zur Bezeichnung für die absolute Krafteinheit wurde." (Kuhn 2005)