Die Atmosphäre auf der Arktischen Station in Godhavn muss anfangs Mai 1913 von konzentrierter Emsigkeit geprägt gewesen sein: Eine Expedition wurde vorbereitet. Kocher und Petrol, das Zelt und die schweren
Schlafsäcke aus Rentierfell, Kleider, Messgeräte und Gewehre mussten
bereitgestellt und revidiert werden. Einige Frauen Godhavns nähten vielleicht auch an Kamikern und Fäustlingen. In doppelter Ausführung mussten solche mitgenommen werden. Denn ging nur etwa ein Handschuh verloren, konnte eine
solche Bagatelle ohne einen Ersatz üble Folgen haben.
Mit Jagderfolg war kaum zu rechnen. Auf der Insel gab es nur wenige Rentiere. Proviant für mindestens zwei Wochen musste also auch mitgenommen werden. Für die Hunde war das wohl getrockneter oder gefrorener Fisch. Für die Zweibeiner, Vater Morten Petersen Porsild, sein Sohn Thorbjörn und Wilhelm Jost, vermutlich Pemmikan und Speck. Ziemlich sicher Hafer, vielleicht auch Teigwaren. Sicher kamen dänische oder sogar Lenzburger Konserven "zum Einsatz". Honig, Kaffee und Schokolade sowieso.
Der Botaniker
Magista Porsild hatte die im Süden der Insel gelegene Station im Jahr 1906 gegründet. Seit Herbst 1912 beherbergten er und seine Frau Johanne drei Gäste aus Europa: Die beiden Schweizer Physiker Paul-Louis Mercanton und Wilhelm Jost sowie den deutschen Meteorologen August Stolberg. Stolberg war ein
"alter Grönland-Hase": Das erste Mal hielt er sich 1907 in Grönland auf. Und zwei Jahre später begleitete er, zusammen mit Emil Baebler, Alfred de
Quervain auf seinem ersten, 26 Tage dauernden Vorstoss auf das Inlandeis.
Dieses Trio bildete die sogenannte West- oder Überwinterungsgruppe: Im Sommer hatte es der vierköpfigen Crew mit dem Leiter Alfred de Quervain durch die
Seracs auf das Inlandeis geholfen. Während de Quervain und seine Leute die 650 Kilometer entfernte Ostküste ansteuerten - und ihnen damit die zweite Inlandeis-Überquerung des gigantischen Eisschildes nach Nansen gelingen sollte -, kehrten die drei Männer und die einheimischen Helfer zur Westküste zurück. Den Sommer hindurch stellten sie dort glaziologische Untersuchungen an und zogen dann für die Überwinterung auf die Arktische Station um.
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Im Vordergrund rechts Wilhelm Jost. In der Mitte August Stolberg, links Paul-Louis Mercanton.
Hinter ihnen zwei einheimische Helfer und Führer. |
Bereits 1908 hatte Porsild Gäste aus der Schweiz: Die Botaniker Martin Rikli und Hans Bachmann. Sie waren vermutlich die ersten Schweizer Besucher Grönlands. Ein Jahr später kamen Alfred de Quervain und der Geologe Arnold Heim auch zu Besuch.
Welche Motive den 30jährigen Berner Bauernsohn und Absolventen des
Lehrerseminars Hofwil zu seinem anderthalbjährigen Aufenthalt auf
Grönland bewegten, ist nicht bekannt. Während
seines Studiums am Physikalischen Institut der Universität Bern, das er
nach seiner Lehrerausbildung aufgenommen hatte, war er Mitglied des Akademischen
Alpenclubs Bern und der Sektion
Bern des Schweizerischen Alpenclubs geworden. So steht immerhin fest, dass Jost unternehmungslustig war.
Am 7. Mai fuhren Porsild, Sohn Thorbjörn und Jost mit den Schlitten nach Norden los. Von März bis Mai ist Hochsaison für
Schlittenexpeditionen; das Meereis ist dann noch nicht aufgebrochen und die Nächte sind hell. Inwieweit das Innere der Insel bereits vermessen war, ihnen gedruckte
Karten zur Verfügung standen, ist unklar. Handskizzen besass Porsild vermutlich, und aus mündlichen Beschreibungen kannte er wohl die alten Schlittenrouten und wichtige topographische Merkmale.
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Dänische
Seekarte aus dem Jahr 1888. Lediglich die Küstengebiete der Insel sind
kartographiert, das Innere scheint komplett vergletschert zu sein. Aus: Martin Rikli und Arnold Heim: Sommerfahrten in Grönland. Frauenfeld
1911. |
Das nach Norden führende
Blasedalen und sein Pass auf etwa 300 Metern Höhe konnten sie wohl in einem Tag nehmen
(siehe Karte unten). Noch ein weiterer Pass von gleicher Höhe lag auf dem Weg in ihr erstes Untersuchungsgebiet.
Jost darüber: "Der Haupttalgletscher war damals ein zusammenhängender Eisstrom von
mindestens fünfundzwanzig Kilometer Länge, der das ganze Tal einnahm bis
zur Ebene des Quanerssuit. Auf dem Gletschereise lag eine Schneeschicht von fünfzehn Zentimeter,
die bis zur Isaks Varde
(Punkt 2)
bis auf fast einen Meter anstieg. Nachdem wir gegen fünf Uhr früh am westlichen Gletscherrande ungefähr bei Punkt 106 der
heutigen Karte unsern Zeltplatz bezogen hatten, konnten wir diese eigentümlichen Verhältnisse näher untersuchen
(Punkt 1). Es handelte sich um eine typische Gletscherüberschiebung. Der aus dem mächtigen Felsentor des Sorte Huk heraustretende östliche Seitengletscher hatte sich auf den Haupttalgletscher hinaufgeschoben. Auf dem Gletscher waren alte Seeterrassen mit feinen Schuttablagerungen noch sehr gut erhalten. Damit aber waren die Überraschungen dieser Landschaft keineswegs erschöpft. An diesen Seeboden schloss sich eine wenigstens anderhalb Kilometer lange Eisschlucht an, die am Haupttalgletscher schräg aufwärts von Südwesten nach Nordosten von Rand zu Rand durchsägte [sic]. Diese Eiscanõn war im Mittel etwa sechzig Meter breit, die senkrechten Eiswände zehn bis dreissig Meter hoch."
"
Heutige Karte? - Die Zitate stammen aus dem Aufsatz
Gletscherschwankungen auf der Insel Disco in Westgrönland, den Jost fast drei Jahrzehnte später in der
Zeitschrift für Gletscherkunde veröffentlichte. Inzwischen war die Insel nämlich vollständig kartographiert worden, in den Jahren von 1931 bis 1933. Jost verglich darauf seine eigenen Beobachtungen mit den zwanzig Jahre später gemachten Aufnahmen der Karte. Zuvor hatte er sich vergewissert: "Über die Genauigkeit der Karte teilte mir das Geodätische Institut in Kopenhagen mit, 'dass die zugrunde liegenden Messungen auf jeder Stufe eine solche Genauigkeit haben, dass in der fertigen Karte die gewöhnliche Kartengenauigkeit (0,2-0,3 mm) eingehalten ist'."
Die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammenfassend: "Die angeführten Tatsachen zeigen, dass manche Gletscher der Insel Disco in Westgrönland schon im Jahre 1913 deutlich Zeichen eines Rückganges aufgewiesen haben und dass dieser Gletscherrückgang in den zwei Jahrzehnten von 1913-1933 ein erhebliches Ausmass erlangt hat. Die stärksten Rückgänge treten bei Gletschern auf, deren Zungen bis in geringere Meereshöhen hinunterreichen und nicht sehr grosse und ergiebige Nährgebiete aufweisen. Das Verschwinden eines Eisschildes auf etwa 1200 m Meereshöhe weist darauf hin, dass selbst in dieser relativ grossen Höhe Eisschwund eingetreten ist."
Nach dem Zwischenhalt im
Quanerssuit-Tal zogen sie weiter nach Norden, auf den riesigen
Gletscher auf über 1'000 Meter Höhe
(Punkt 2 der Karte).
"Auf diesem
Hochlandeise haben wir im letzten Mai an manchem schönen Tage gearbeitet
und die tiefe Todesstille auf uns einwirken lassen, die eine derartige
Landschaft auf die menschliche Seele ausübt", schrieb Jost in seinem ersten Bericht für den Akademischen Alpenclub Bern, den er 1919 unter dem Titel
Augusttage an der Westküste der Discoinsel publizierte.
Im 1941 veröffentlichten Bericht geht er ausführlicher darauf ein: "Am Gletscher, der von
Isaks Varde in westlicher Richtung nach dem Stordal abfliesst, war schon
im Mai 1913 auf lange Strecke hin eine wohl zwanzig Meter höher
gelegene Ufermoräne erkennbar. Das Gletscherende lief flach gegen einen
weiten ebenen Boden von mehr als einem Kilometer Länge aus. Dieser vom
Gletscher nicht bedeckte Boden wurde am Rande durch eine riesige, quer
zum Teil verlaufende Stirnmoräne, die gewaltigste, die ich in Grönland
gesehen habe, abgedämmt. Auf Isaks Varde wurde an einem Föhntage um 9 a. m. eine Temperatur von + 3.4 Grad C abgelesen, die allerdings bis 11.45 p.m. wieder auf -13.0 Grad C und später auf -17.8 Grad C herunterfiel."
Und in einer Fussnote: "An hellen Tagen war die Strahlung bedeutend. Ich fand in einer Höhe von
400 m ü./M. ein Polster blühender
Saxifraga grönlandica zu einer
Zeit, da in Godhavn am offenen Meer noch keine Spur von einer
Neubelebung der Vegetation zu bemerken war."
Nach zwei Wochen kehrten Porsild, Thorbjörn und Jost zur Arktischen Station in Godhavn zurück. Ob sie bis zur Küste im Nordosten fuhren
(Punkt 3), ist unklar (von Jost ist kein Reisetagebuch überliefert; ob von Porsild Aufzeichnungen erhalten sind, wäre noch zu prüfen).
Arnold Heim untersuchte dieses Gebiet im Auftrag der
Grönlandsk Minedrifts A.-G. schon im Jahr 1909 im Hinblick auf Steinkohlevorkommen und Graphitlagerstätten. Später, in den Jahren von 1924
bis 1972, wurde in
Qullissat Steinkohle abgebaut, über 1'500 Menschen lebten in der Siedlung. Heute gleicht sie einer
Geisterstadt. Seine alpinistischen Fähigkeiten spielte Jost im Sommer 1913 aus:
"Wie die Felsen lockten! Es war ja erster August, und da sollte ein Schweizer etwas Rechtes tun!" In den Bergen an der Südküste des im Nordwesten der Insel gelegenen Nordfjords unternahm er eine 27stündige Alleinbegehung. Die Rekonstruktion der zweiten Expedition erscheint deshalb am 1. August 2013. Auf der Umrundung der Insel auf dem Schiff
Clio borealis mit Morten Porsild, Sohn Thorbjörn und Wilhelm Jost, nahm noch ein weiterer Gast teil. Jahre später wurde er zu einem der Protagonisten der Polarforschung auf Jahrzehnte.
Die Fortsetzung von
Jost auf Disko wurde am 31.7.2013 veröffentlicht.
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