Die retrospektive Digitalisierung der vielfältigen Periodika der Schweiz, die seit Jahren als ein Gemeinschaftswerk von Schweizer Bibliotheken unter der Ägide der ETH-Bibliothek betrieben wird (
e-periodica), entreisst Texte dem Vergessen. An dieser Stelle sei ein erhellendes und eindrückliches Dokument wiedergegeben.
Zwei Tage nach dem Tod Alfred de Quervains, am 15. Januar 1927, wandte sich der Theologe Leonhard Ragaz (1868-1945), der sich nach Ruedi Brassel-Moser gegen marxistische und staatszentrierte Ansätze wandte und einen föderalistischen, genossenschaftlichen und pazifistischen Sozialismus vertrat (vgl.
HLS) mit folgenden Worten an die Trauergemeinde:
Verehrte Versammlung! [1]
Ich bin gebeten worden, im Namen der
Freunde und der
Freundschaft an dieser Feier ein Wort zu sagen, und wer wollte sich einem solchen Auftrag entziehen? War doch der Verstorbene in dem überquellenden Reichtum seines Wesens auf seltene Weise ein Freund! Denn wenn man mit der Vorstellung eines Gelehrten sonst gern etwa die der Abstraktheit verbindet, so war er ein durch und durch
persönlicher Mensch, ein Mensch, der selbst das Leben in seiner Fülle und Mannigfaltigkeit sehr persönlich und mit stärkster Kraft des Gefühls, ja mit Leidenschaft erlebte und davon tief und heftig ergriffen wurde, aber deswegen sich nicht in seiner Subjektivität vergrub und verzehrte, sondern die gleiche Kraft, ja Leidenschaft des Gefühls dem Wesen und Erleben Anderer als Anteilnahme, und zwar nicht nur des Gefühls, sondern auch des Willens und der Tat, zuwendete. Dabei lebte in der, wie wir wissen, für den oberflächlichen Blick manchmal etwas rauh erscheinenden Schale seines Wesens der süsse Kern einer sehr grossen, ja aussergewöhnlichen Zartheit des Herzens und adeligen Feinheit des Empfindens. Trotzdem er selbst eine so grosse Eigenart besass – eine Eigenart, knorrig wie eine Arve der Hochalpen – mit dem Mut, ihr zu gehorchen, vielmehr wohl gerade darum, wusste er auch die Eigenart Anderer zu verstehen und gelten zu lassen, wie denn ein sehr seltenes Mass von
Gerechtigkeit zu den Hauptzügen seines Wesens gehörte. Er liess sich durch allerlei Schwächen und Fehler seiner Freunde nicht von ihnen abbringen, zum mindesten nicht, so lange er keinen Grund hatte, an ihrer
Ehrlichkeit zu zweifeln. Wo es galt, für einen Freund mit Einsatz seiner selbst etwas zu tun, da liess er sich nicht erst bitten. Denn
Ritterlichkeit, dieses in der heutigen Welt fast mythisch gewordene Charakteristikum einer adeligen Natur, war wieder ein Hauptzug seines Wesens. Und da er selbst das Menschenlos so tief und reich und, was damit fast gleichbedeutend ist, in vielen Schmerzen erlebte, konnte er den Freunden diejenige Gabe geben, die fast das Kostbarste ist, was der Mensch vom Menschen empfangen kann: tiefes und zartes, gütiges und freies
Verständnis. Darum ist das Leben für seine näheren Freunde um vieles dunkler, kälter und ärmer geworden dadurch, dass er nicht mehr unter uns ist. Es ist eine Quelle der Wärme, des Lichtes und Lebens für sie irdisch versiegt.
Aber all das, verehrte Versammlung, was der verstorbene Freund uns, seinen Freunden, zugewendet hat, das hat er
Allen geschenkt, hat er der
Welt geschenkt. Denn der Mann, dessen gutes Auge nun geschlossen und dessen heisses Herz gebrochen ist, war im tiefsten und umfassendsten Sinne des Wortes
ein Freund der Menschen und ein Freund der Welt. Auch ihnen hat er die ganze Gefühlskraft, ja Leidenschaft seines reichen Herzens zugewendet. Es gab nichts Menschliches, das ihn nicht im tiefsten bewegte, das er nicht als das Seinige empfunden hätte. Auch darin war er so gar nicht das, was man sich mit Recht oder Unrecht unter einem Gelehrten vorzustellen pflegt. Trotz seinem grossen Verstand war doch keine Verstandeskälte in ihm, um gar von der Ueberheblichkeit und skeptischen Haltung eines gewissen Intellektualismus zu schweigen. Er war ein tief
demütiger Mensch, ein trotz schwersten Ringens mit den Rätseln der Welt und des Lebens
frommer Mensch. Aus dem heiligen Grund in ihm stammte die Fähigkeit, immer wieder mit
Begeisterung zu erfassen, was recht, gut und schön war. Solche Art ist ewige Jugend und jugendlich war das Feuer, mit dem er immer wieder ergriff, was von Ansprüchen und Offenbarungen des Wahren und Guten an ihn herankam. Er war ein
Mensch, vor allem ein Mensch. All seine grosse Gelehrsamkeit war gar nichts anderes als ein bescheidenes Organ seiner menschlichen Aufgabe. Nie fiel es ihm ein, dass er als ein Gelehrter von Weltnamen eitle Distanz zu wahren habe. Er war immer zuerst und vor allem Mensch, Mitmensch, Bürger, Schweizer, Glied der ganzen Menschenfamilie, und als solches fühlte er sich durch sein starkes und feines Gewissen verpflichtet, persönlich einzugreifen, wo es galt zu helfen, zur Wahrheit, zum Recht und zur Liebe zu stehen. Auch in diesen Teil seines Wirkens, den wir doch ja nicht als einen blossen Anhang, sondern als einen charakteristischen Hauptbestandteil seines Lebens betrachten wollen, trug er, verbunden mit der Menschen- und Weltfreundschaft seines grossen Herzens, jene zwei edlen Eigenschaften hinein, von denen ich geredet habe: Gerechtigkeit und Ritterlichkeit. Diese strenge und gütige Gerechtigkeit war bei ihm umso höher zu schätzen, als er eine
leidenschaft1iche Natur war. Sie war eben nicht Naturgabe, sondern die Frucht tiefer
Wahrhaftigkeit und – darf ich das fast veraltete und doch so edle Wort brauchen? – tiefer
Gottesfurcht. Damit vereinigte sich die Ritterlichkeit zu einem edlen Bunde. Aus dieser mit der Gerechtigkeit verbundenen Ritterlichkeit heraus hat er im politischen, sozialen und allem Leben die Sache der Leidenden, Kämpfenden, Untenstehenden zu der seinigen gemacht. Das war auch wieder besonders ergreifend, für die, welche wussten, wie
konservativ im guten und besten Sinne des Wortes er durch Natur, Erziehung und Herkunft war, wie sehr er an dem Bestehenden hing, soweit darin Gutes, Echtes und Heiliges enthalten ist. Wieder schlossen damit Elemente, die sonst nur getrennt zu finden sind, in ihm einen seltenen Bund, dessen häufigeres Vorkommen die Welt so viel schöner und erfreulicher gestalten würde.
Einen Zug muss ich hier ganz besonders hervorheben, nicht etwa bloss, weil er mir persönlich wichtig ist, sondern weil er wirklich am Bilde des Verewigten so stark hervortrat, dass man nicht davon schweigen darf: das· ist die Kraft, Leidenschaft und Treue, womit er
die Sache des Friedens ergriffen hat. Es gibt gewiss nicht allzuviele, denen diese Sache so wie ihm – und seiner vielgetreuen Gattin, wie ich wohl hinzufügen darf – ein heiliges persönliches Anliegen geworden ist. Das Schicksal des Völkerbundes lag ihm als ein Stück dieser Sache innig am Herzen. Noch seine letzten Leidensjahre, wo bei fast allen andern Menschen der Egoismus des schweren persönlichen Geschickes allen Sinn für die allgemeinen menschlichen Angelegenheiten verschlungen hätte, erfüllte die heisse Herzensleidenschaft dieses Interesses für diese Sache des Friedens. Es war eine der letzten grösseren Freuden seines Lebens, als er mit Erlaubnis des Unternehmens, das ein von ihm selbst, in Gemeinschaft mit zwei Freunden, erfundenes, besonders feines Instrument zur Registrierung von Erdbeben herstellte, darauf in lateinischer Uebertragung die biblische Verheissung setzen durfte: "Et conflabunt gladios suos in vomeres et lanceas suas in falces." (Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spiesse zu Winzermessern.) Wahrlich, sein eigen Herz war auch ein solches Instrument, das mit wunderbarer Feinheit die Bewegungen empfand, die fern und nah durch die Seele der Menschenwelt zittern. Wie dankbar sind wir, dass dieses Herz wenigstens noch einige erste Verwirklichungen jener Verheissung als Bürgschaft für die ganze erleben durfte. In dieser zentralen Teilnahme an der Friedenssache, die jetzt ja der Brennpunkt des Ringens um Gott und den Menschen geworden ist, leuchtete das innerste Wesen dieses Freundes der Menschen und der Welt herrlich auf.
Aber es kam darin eben nur jenes Element zum Ausdruck, das die Seele seines
ganzen Wirkens war. Er war nicht nur als Gelehrter nebenbei auch Mensch, sondern es gehörte zum Eigenartigen, Vorbildlichen und Seltenen seines Wesens, dass er gerade
als Gelehrter Mensch war. Was ihn als Forscher im Tiefsten trieb, möchte ich wieder sagen, war seine
Freundschaft zur Welt. Er erforschte die Welt mit Leidenschaft, weil er sie
liebte. Die Liebe zu ihr trieb ihn auf unsere Berggipfel, die Liebe zu ihr in das Reich der Luft, der Wolken und Winde, die Liebe zu ihr in Grönlands ewiges Eis. Diese Liebe zur Welt floss aus der Liebe zu Gott, zu dem Gott, dessen Schöpfung ja für ihn die We1t war. Die Spuren
seiner Hand, die Linien
seines Weges suchte seine Seele, bewusst und unbewusst, auf ihren Forscherpfaden. Sein wissenschaftlicher Erkenntnisdurst war Durst nach Gott, dem lebendigen Gott, sein wissenschaftliches Arbeiten in seiner Leidenschaft ein geistiges Nachschaffen der Schöpfung Gottes. Und das ist ja doch wohl der tiefste Sinn aller Forschung. Aber diese Liebe zu Gott in seiner wissenschaftlichen Arbeit, dieser amor Dei intellectualis, wurde wieder Liebe zum Menschen. Er war als Gelehrter
immer Mensch. Das bekannte Göthesche Wort, dass des Menschen eigentliches Studium doch immer der Mensch sei, erfuhr an ihm eine ungesuchte, wundervolle Verkörperung. Der Frage des Menschen ging er nach, wenn er Grönlands unberührte Gletschereinsamkeit erforschte, wie wenn er die Bahnen der Gestirne verfolgte, erschauernd im Gefühl der menschlichen Kleinheit ob der Unermesslichkeit von Raum und Zeit, die er wie wenige empfand, mit dem Problem ringend, wie sie mit einer grossen Bestimmung des Menschen vereinbar sei. Wenn er seine Grönlandsfahrt mit der grossen Darstellungs- und Erzählungsgabe, die ihm eignete, in seinen Reisebüchern beschrieb [1] oder vor einfachen Menschen in einem volkstümlichen Kurse mit ganz genialer pädagogischer Kunst die Wunder des Sternenhimmels enthüllte, immer war der Mensch das letzte Wart, immer brachte er Frucht für den Menschen, Brot für seine Seele, Licht für seine Bestimmung heim. So
sol1 es ja auch sein, so
wird die Wissenschaft eines Tages wieder viel mehr sein als jetzt. Niemand wird sagen können, dass bei unserem Freund ob dieser Art die Strenge der wissenschaftlichen Forschung gelitten hätte, vielmehr ist aus dieser Quelle ihre Fruchtbarkeit geflossen. Wohl aber war es ganz folgerichtig, wenn dieser Gelehrte, der vor allein Mensch war; in seiner Welt- und Menschenfreundschaft sich nicht bloss auf sein Fach beschränken konnte, sondern auch sein theoretisches Interesse der ganzen Fülle der Welt zuwenden musste. Er, der Naturforscher auf zum Teil besonders abstrakten Gebieten, liebte und kannte die Poesie, er liebte und kannte die griechischen und römischen Klassiker und las sie in der Ursprache. Selten fehlte es in seinen Briefen und Gesprächen an einem Zitat aus ihnen. Aber freilich, viel tiefer noch auf den heiligen Grund seines Wesens liess ein anderer Zug blicken: auf seinem Arbeitstisch lag zwischen Karten und Instrumenten stets das griechische Neue Testament.
Verehrte Versammlung! Ich hoffe, sie werden mir nicht zürnen, wenn ich meine Aufgabe etwas weiter gefasst und von dem Manne, dessen verklärtes Bild in dieser Stunde vor uns steht, aus der Fülle des schmerzbewegten und dankbaren Herzens geredet habe, nicht bloss wie er uns wenigen, sondern auch wie er Ihnen allen, wie er der Welt ein Freund war. Denn das ist, ich wiederhole es, etwas ganz Grosses und Seltenes, und davon können nur wir, die Freunde, die in die Tiefen dieses Lebens schauen durften, richtig reden; die andern haben es meistens zu wenig gesehen. Wir aber fühlen uns auch darum zum Reden gedrängt, weil dieses Leben, so reich es war und so schön, aus einem besonderen Grund doch auch so furchtbar schwer gewesen ist. Denn es muss gesagt werden, mit der Ehrlichkeit, die ihm selbst strengstes Gesetz war:
Dieser Mann ist schwer verkannt worden, an diesem Manne hat man schwer gesündigt. Sein Wert als Gelehrter, Lehrer, Mensch hätte unter uns ganz anders zur Geltung kommen müssen, als das geschehen ist, und zwar zu seinen Lebzeiten, nicht erst an einer Trauerfeier über dem Grab, in das wir ihn zu früh gebracht. Wir haben diesem grossen Freund der Menschen und der Welt gegenüber eine schwere Schuld. Dieses grosse Herz ist auch darob, nicht zum mindesten darob, zart wie es war, so früh gebrochen. Freilich, es ist auch so früh gebrochen, weil es sich in seinem Feuer, seiner Liebe, seinem Durst nach Wahrheit und Gerechtigkeit verzehrt hat. Aber mindert das unsere Schuld? Haben wir es nicht gerade darum misshandelt und gebrochen, weil es ein so echt menschliches, brüderliches, freies, wahres, gutes Herz war? Denn solche Herzen sind stets unbequem, solche Herzen, die doch der einzige wirkliche Wert der Welt sind.
Wir stehen, verehrte Versammlung, vor einem Erdenlose voll schwerer Tragik. Schwer hat der Freund gelebt. Sein goldener Humor und köstlicher Witz strömte[n], wie dies ja fast immer der Fall ist, aus dunklen Tiefen. Schwer war sein Lebenslos und schwer ist sein Todeslos. Es scheint ein Leben, das nicht zu seinem Recht gekommen sei. Das hat uns in den letzten Jahren und mit verstärkter Wucht in den letzten Tagen oft stark bedrücken und verdüstern wollen. Aber nun, gerade da wir den ganzen Reichtum und die ganze Schönheit dieses allzu kurzen und allzu schweren Lebens bedenken, müssen wir doch sagen: es ist doch etwas Edles und Grosses gewesen, und seine Tragik, die Tragik seines Weges und seines frühen irdischen Endes, wird seine ewige Jugend sein. Was ihm an Erfolg und Gerechtigkeit vorenthalten worden ist, wird in seiner Nachwirkung, in dem zweiten, verklärten Wirken unter uns, überreich hinzugefügt werden. Zu diesem neuen Leben und Wirken unter uns wie über uns, du treuer, von Arbeit und Leid verzehrter, allzu müde gewordener Freund, unser Freund, wie der Welt und der Menschen Freund, schlafe wohl!
L. Ragaz.
Fussnoten
1
Wenn ich diese Rede,
die ich an der akademischen Trauerfeier für den verstorbenen Freund, am
15. Januar dieses Jahres, in der Kirche von Fluntern in Zürich gehalten,
in den "Neuen Wegen" veröffentliche, so geschieht dies, damit ich auch
auf diese Weise ein wenig mithelfen könne, Gerechtigkeit für einen Mann
zu schaffen, an dem in der Schweiz, speziell in Zürich, auf eine Weise,
die ans Unbegreifliche grenzte, Unrecht getan worden ist. Wiederholt hat
man ihn bei der Besetzung von Lehrstellen übergangen, für die er
einzigartig berufen war. Er ist nach zwanzigjähriger Lehrtätigkeit an
beiden Hochschulen als Privatdozent gestorben; freilich mit dem Titel
eines Professors, aber nur dem Titel! Ueber die Gründe, die jeweilen die
massgebenden Personen und Kreise zu diesem Verhalten bewogen haben,
wollen wir lieber schweigen; sie sind ja nicht allzu schwer zu erraten.
Wer mit akademischen Verhältnissen vertraut ist, weiss, was eine solche
Zurücksetzung zu bedeuten hat. Sie bedeutet in jeder Beziehung eine
Verstümmelung des Lebens. Dass dieses Schicksal an der Zürcher
Hochschule auch andere hatten und haben, ist ein geringer Trost. Wir
haben gegenüber diesem Manne eine schwere Schuld abzutragen undii müssen,
als "Mitarbeiter Gottes", jeder das Seine tun, damit dieses Leben über
das Grab hinaus zu der Wirkung gelange, die es verdient.
1 [2] Vgl. Alfred de Quervain: "Quer durchs Grönlandeis", "Durch Grönlands Eiswüste". Beides sind populäre Bücher, wundervoll erquickende und belehrende, die wissenschaftlichen Ergebnisse sind anderwärts niedergelegt.
Ragaz, Leonhard: Alfred de Quervain, in: Neue Wege. Beiträge zu Religion und Sozialismus, 21(1927), S. 70-75. Hervorhebungen wie im Original.
Link
Abbildungsnachweis
Mercanton, Pau
l-Louis: Alfred de Quervain. In memoriam, in: Les variations périodiques des glaciers des alpes suisses. Rapports annuels, rédigé par Paul-Louis Mercanton, 47. rapport, 1926, S. 167-169. Bern, Tafel 1.
Zur
Biographie Alfred de Quervains.